»Ich habe aber gehört, dass sie in Britannien vorkommen, wieso dann nicht auch in Hibernia? Das liegt doch dicht daneben. Ich dachte immer, Giftschlangen gäbe es überall.«
»Das ist in der Tat schwer zu verstehen«, meinte Fidelma. »Aber man erzählte sich schon vor langen Zeiten, dass es unserem Volk beschieden sei, in einem Land ohne Schlangen zu leben.«
Das konnte sich Bruder Gebicca nun schon gar nicht vorstellen. Fidelma fühlte sich bemüßigt, die Geschichte zu erklären.
»Der Urvater unserer Stämme, Goidel Glas, Sohn des Niul, diente in alter Zeit in der Armee des Pharaos Cingris in Ägypten. Er wurde von einer Giftschlange gebissen, doch ein heiliger Mann, der mit seinem Vater Niul befreundet war, rettete ihn vor dem Tod. Die Wunde hinterließ eine grüne Narbe, und das brachte ihm den Beinamen glas ein, was in unserer Sprache >grün< bedeutet. Der Heilkundige prophezeite Goidel Glas, er würde sein Volk eines Tages zu einer Insel am Ende der Welt führen, wo es keine Schlangen gäbe. Goidels Nachfahren schließlich brachten unser Volk zu der Insel, die euch als Hibernia bekannt ist.«
»Das ist heidnischer Aberglaube«, wies Bruder Gebicca die Geschichte von sich.
»Ob heidnisch oder nicht«, erwiderte Eadulf, »heutzutage behauptet man, dieses Wunder sei Patrick zuzuschreiben, der auf die Insel kam, um die Menschen zum Christentum zu bekehren. Er soll alle Giftschlangen vertrieben haben.« »Wie lange wird es dauern, bis die Schwellung abklingt und die Wunde heilt?«, fragte Fidelma ungeduldig.
Der Arzt begann, einen neuen Verband anzulegen.
»Die Gefahr einer Infektion ist gebannt. Die Wundheilung verläuft gut, und die Schwellung dürfte in ein, zwei Tagen abgeklungen sein. Ich rate zur Ruhe, Bewegung regt den Blutkreislauf unnötig an, und das könnte restliche Giftstoffe im Körper aktivieren. Dir ist wirklich nicht übel?« »Nein.«
»Hundszahn und Eisenkraut haben ihre Wirkung nicht verfehlt. Die nächsten Tage solltest du noch einen Aufguss aus Eisenkraut trinken, das wirkt dem Gift entgegen.«
»Aber aufstehen darf ich doch jetzt, ich habe viel zu tun.« Bruder Gebicca war von dem Gedanken nicht erbaut. »Wenn es unbedingt sein muss. Tu, was du nicht lassen kannst. Ich habe getan, was ich konnte, und der unmittelbaren Wirkung des Giftes Einhalt geboten. Mein Rat wäre, geh auf dein Zimmer und gönn dir wenigstens für den heutigen Tag Ruhe.«
»Der Arzt hat recht, Fidelma. Was unbedingt erledigt werden muss, kann auch ich machen«, pfichtete ihm Eadulf bei.
»Zunächst kannst du mir erst mal in unser Zimmer helfen«, erwiderte Fidelma. Sie musste sich leider eingestehen, dass sie ohne Hilfe keinen Schritt tun konnte.
Sie stützte sich auf Eadulfs Schulter, dankte Bruder Gebicca, und sie machten sich langsam auf den Weg zum Hauptgebäude der Abtei. Ein paar Gäste grüßten sie und erkundigten sich nach Fidelmas Befinden. Auch Abt Seg-dae lief ihnen über den Weg und war ungemein erleichtert, sie in einem weitaus besseren Zustand als am Abend zuvor zu sehen. Als sie mit einiger Mühe ihr Zimmer erreicht hatten, fiel sie erschöpft von der Anstrengung auf das Bett.
Eadulf holte ihr Wasser, und sie trank es dankbar.
»Ich fürchte, der Arzt hat recht«, gab sie zu und reichte Eadulf den Becher zurück. »Ich brauche mehr Ruhe, als ich gedacht habe. Das Stückchen Weg hat mich voll-kommmen ermüdet.« Sie bemerkte einen Korb mit Obst und einen anderen mit verschiedenen Heilkräutern. »Zumindest scheint man in der Abtei um meine Gesundheit besorgt.«
Eadulf warf einen Blick auf die Körbe.
»Die hat Bischof Leodegar gebracht. Sie kommen offensichtlich von der Gräfin, sie schickt dir Obst, Heilkräuter und alle guten Wünsche für eine rasche Genesung.« Fidelma runzelte die Stirn. »Gräfin Beretrude?« Sie musste an den Vorabend denken, als Beretrude ihr im Garten zuredete, sich die Sträucher genauer anzusehen ... was war es . Oleander?
Eadulf bemerkte ihre skeptische Miene. »Ist was?«
»Mir ging nur durch den Kopf, ob Beretrude gewusst hat, dass unter den Büschen eine Giftschlange war.«
»Woher soll sie das gewusst haben?«, fragte er verwundert.
»Kurz bevor du kamst, hat sie mich ausdrücklich ermuntert, näher heranzugehen.«
»Deshalb muss sie aber doch nicht gewusst haben, dass dort eine Giftschlange war.«
»Um das Strauchwerk verlief eine kleine Holzumzäunung, gerade so hoch, dass eine Schlange nicht hätte darübergelangen können. Vielleicht war sie dort mit Bedacht ausgesetzt?«
Eadulf hatte seine Zweifel. »Du willst doch damit nicht behaupten, sie hätte versucht, dich zu töten! Der Biss einer Viper muss nicht unbedingt zum Tod führen. Selbst Bruder Gebicca hat ihn mit einem Bienenstich verglichen, der nur Kindern und Menschen mit schwacher Konstitution ernsthaft gefährlich werden kann.«
»Das entkräftet nicht meinen Verdacht«, entgegnete Fidelma verärgert. »Vielleicht wollte sie auch nur verhindern, dass ich meine Nachforschungen weiterbetreibe.« Plötzlich fiel ihm wieder ein, was er ihr hatte erzählen wollen, als sie die Schlange sie biss.
»Ich glaube, wir hatten nicht unrecht mit dem Verdacht, Beretrude könnte etwas mit den Frauen aus dem domus feminarum zu tun haben«, fing er langsam an. »Gestern Abend habe ich hinten an der Villa etwas sehr Befremdliches gesehen, und davon wollte ich dir gerade erzählen, als ich dich an den Büschen fand.«
Sie blickte ihn erwartungsvoll an.
»Nachdem wir beschlossen hatten, das Gelände getrennt auszukundschaften, ging ich auf die östliche Seite der Villa. Mir schwebte vor, einen Hintereingang zu finden und einen Blick ins Innere zu werfen.«
Er machte eine Pause, aber sie bat ihn sofort: »Rede schon weiter.«
»Ich kam an eine Stelle, wo Steinstufen nach unten zu einem Keller führten. Am Fuß der Treppe gab es eine Tür -massives Holz ohne Gitterfenster, auch kein Türgriff oder Schloss, soviel ich sehen konnte. Nach meiner Vermutung konnte man die Tür nur von innen öffnen.«
»Und?«
»Ich wollte gerade die Stufen hinunter und mir die Sache näher ansehen, als ich den Aufschrei eines Kindes hörte.« »Ein Kind?«, fragte sie erschrocken. »Drinnen im Haus?« »Nein, hinter der Begrenzungsmauer, jenseits einer eisernen Pforte. Ich hörte barsche Befehle einer Männerstimme und versteckte mich hinter ein paar Fässern. Das Tor wurde geöffnet, und ein Krieger stieß ein Kind und zwei Frauen hinein. Die Frauen trugen Nonnentracht. Die Hände hatte man ihnen vor dem Körper gefesselt, auch dem Kind. Außer dem Krieger, der mit gezogener Waffe ging, war noch jemand dabei .«
Wieder legte Eadulf eine Pause ein und spannte Fidelma damit auf die Folter.
»Und, wer war das?«, drängte sie ihn.
»Ein alter Bekannter von uns.«
»Ein alter Bekannter? Hör auf, in Rätseln zu sprechen, Eadulf. Sag endlich, wer es war.«
»Verbas von Peqini.«
KAPITEL 14
Fidelma schwieg nachdenklich, nachdem er geendet hatte. Eadulf wartete, denn er wollte sie nicht stören. Es dauerte nicht lange, da erklärte sie ihm: »Der Umstand, dass Verbas hier ist, erhellt das Geheimnis um Dabhocs Ermordung keineswegs, fügt der ganzen Sache aber immerhin einen interessanten Aspekt hinzu.«
»Dass wir hier sind, kann er kaum wissen.«
»Der Meinung bin ich auch . wenngleich es ein merkwürdiger Zufall ist. Du hast zwei Nonnen und ein Kind gesehen und hattest den Eindruck, sie wurden wie Gefangene behandelt?«
»Verbas und ein Krieger brachten sie offenbar in einen Keller in Beretrudes Villa.«
»Gibt es da vielleicht einen Zusammenhang mit dem Verschwinden der Nonnen aus dem domus feminarum?«
»Und dem Wimmern, das Gillucan gehört haben will? Könnten das nicht die weinenden Kinder gewesen sein?« »Vorsicht, keine voreiligen Schlüsse!« Mit diesen Worten schwang sich Fidelma aus dem Bett und versuchte, auf die Füße zu kommen, sank aber mit einem Fluch zurück, der ihr höchst selten entfuhr.