Eadulf hatte sich nur mit Mühe in der Gewalt. Das Verhalten der abbatissa bestärkte ihn eher in seinem Vorhaben, unerbittlich und ohne jede Rücksicht auf diplomatische Erwägungen vorzugehen. »Als Mitglied unserer Glaubensgemeinschaft wird es dich froh stimmen, dass es Schwester Fidelma besser geht und sie sich von dem Biss der Giftschlange erholt«, erwiderte er nicht ohne Sarkasmus. »In der Tat, ich bin an ihrer Stelle hier im Streben nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Das dürfte die Sache einfach machen - veritas simplex oratio est - einfach ist die Sprache der Wahrheit.«
Äbtissin Audofleda war sichtlich verärgert. »Die ganze Angelegenheit ist mir ausgesprochen zuwider. Was willst du also wissen? Bringen wir das rasch hinter uns.« »Kommen wir noch einmal auf die Sache mit Schwester Valretrade zurück«, begann Eadulf.
»Wie es sich mit ihr verhält, haben wir bereits erklärt. Sie hat beschlossen, uns zu verlassen - das ist alles.«
»Soviel hast du bereits gesagt, ja. Du erwähntest auch, sie habe dir eine Mitteilung hinterlassen.«
»Und was ist dabei?« Sie schnaubte verächtlich? »Alle haben sie eine Mitteilung hinterlassen. Lesen und schreiben konnte sie doch.«
»Dass sie lesen und schreiben konnte, habe ich mir gedacht«, erwiderte Eadulf mit ernster Miene. »Ihre Mitteilung, hat sie sie dir überreicht?«
»Schwester Radegund hat mir die Notiz gegeben.«
Eadulf wollte sich schon an die Verwalterin wenden, als ihm plötzlich aufging, was die Äbtissin gesagt hatte. »Du sagst, sie haben alle eine Mitteilung hinterlassen?«
»Alle Frauen, die aus dem Kloster ausgeschieden sind, haben mit ein paar Zeilen mitgeteilt, dass sie weggehen. Sie haben vermieden, es mir persönlich zu sagen.«
»Und alle haben das Papier Schwester Radegund übergeben?«
»Selbst gegeben haben sie mir die Mitteilungen nicht«, antwortete Schwester Radegund verdrossen. »Ich habe sie jedes Mal in meinen Räumen gefunden, in denen ich die täglichen Belange des domus feminarum regele.« »Verstehe ich es recht, du hattest nie eine Aussprache mit denen, die davonziehen wollten?«, bohrte er. »Wie viele sind inzwischen fort?«
»So an die zwanzig. Sie alle haben die Abtei noch vor Morgengrauen verlassen, ohne jemandem auch nur ein Wort von ihrer Absicht zu sagen. Feige Geschöpfe, die sie waren, haben sie sich einfach bei Nacht und Nebel davongestohlen.«
Eadulf wandte sich wieder der Äbtissin zu. »Und du hast dich nicht über dieses seltsame Verhalten gewundert?« »Ich habe es als das Verhalten von Schwächlingen aufgefasst, das durchaus zu ihrer sonstigen Einstellung passte«, tat Äbtissin Audofleda die Sache ab. »Sie waren mit der Regula nicht einverstanden.«
»Ich hätte gern die Mitteilung von Schwester Valretrade gesehen.«
»Bezweifelst du, dass sie vorhanden ist?«, fragte die Äbtissin unwillig und herausfordernd.
»Ich habe lediglich gesagt, dass ich sie sehen möchte«, wiederholte Eadulf ruhig.
Die Äbtissin öffnete einen Schrank und nahm ein dünnes Schreibtäfelchen heraus. Eadulf hielt es für Birkenrinde, worauf immer noch viele schrieben. Wortlos gab sie es ihm. Er nahm es und betrachtete es gründlich. Der Text war in Latein. Die Schriftzüge waren wohlgeformt, doch er suchte nach den Querstrichen bei den bs und ds - der Eigentümlichkeit von Valretrades Handschrift, wie sie Bruder Sigeric geschildert hatte. Sie fehlten. Rasch überflog er die Zeilen.
Abbatissa Audofleda, ich kann mich nicht länger mit der Regula der Abtei abfinden. Daher gehe ich fort und suche mir eine Gemeinschaft, in der ich glaube, Nützliches leisten zu können und in der ich mich wohlfühle. Ich habe von einer solchen Gemeinschaft in den Bergen im Süden gehört, die der heilige Gallus aus Hibernia gegründet hat.
In Betrübnis, Valretrade.
»Nun siehst du es selber. Hättest uns ruhig glauben können«, sagte Schwester Radegund grantig.
Eadulf erwiderte nichts, steckte aber das Täfelchen aus Birkenrinde in sein marsupium. »Mit deiner gütigen Erlaubnis, abbatissa, möchte ich das zunächst behalten.«
Die Art, wie er es sagte, machte deutlich, er würde es nicht wieder hergeben, selbst wenn sie darauf bestand. »Und die anderen Mitteilungen, hast du die auch zur Hand?«
Diesmal reichte sie ihm ein kleines Bündel ohne Widerstreben. Fast alle glichen einander, waren auf Birkenrinde geschrieben, und auf einigen standen sogar drei oder vier Namen. Alle gaben als Begründung für ihr Fortgehen an, dass sie mit der Regula im domus feminarum nicht einverstanden waren. Nur in Valretrades Zeilen wurde die Absicht erwähnt, zur Abtei des Gallus zu wandern.
»Die sehen alle bemerkenswert gleichförmig aus, als ob sie alle von einer Hand stammten«, äußerte sich Eadulf. »Ich glaube, Valretrade hat die alle geschrieben. Sie war ja als Kopistin tätig; zweifelsohne haben ihre Mitverschworenen sie dafür bezahlt, diese Zeilen zu schreiben.« »Und all diese Frauen konnten sich nicht damit abfinden, dass in der Abtei die Geschlechter getrennt leben mussten?«
»Die Regula ist doch klar«, erwiderte die Äbtissin von oben herab. »Wenn sie sich nicht fügen wollen, steht es ihnen frei, zu gehen.«
»Die meisten von ihnen waren verheiratet. Einige hatten sogar Kinder. Die Trennung muss ihnen sehr schwergefallen sein.«
»Vor einem Jahr hat sie der Bischof vor die Wahl gestellt: Entweder die Abtei verlassen oder sich der Regula beugen.«
»Viele meinten gewiss, sie müssten hierbleiben, einen anderen Ort kannten sie gar nicht. Sie waren hier geboren, hatten ihr ganzes Leben hier verbracht.«
»Die Entscheidung lag bei ihnen«, erwiderte die Äbtissin halsstarrig.
»Wie viele aus deiner Gemeinschaft sind Ehefrauen der Brüder?«
»Keine.«
Die Antwort kam sehr plötzlich von Schwester Radegund und überraschte Eadulf. Sein fragender Blick veranlasste Äbtissin Audofleda hinzuzufügen: »Meine Verwalterin meint, Bischof Leodegar hat die Eheschließungen derjenigen, die sich entschieden hierzubleiben, für ungültig erklärt, da sie der Regula zuwiderlaufen.«
»Aber einige hatten doch Kinder.«
»Die Kinder wurden in Obhut genommen.«
»Wie viele dieser Frauen und Kinder befinden sich gegenwärtig in der Obhut der Abtei?«
Die Äbtissin warf ihrer Verwalterin einen Blick zu. »Während der vergangenen Tage haben auch die letzten von denen das domus feminarum verlassen«, erklärte Schwester Radegund mit sicherer Stimme. »Die meisten Abgänge hatten wir in den beiden zurückliegenden Wochen.«
Eadulf konnte seine Verwunderung nicht länger verbergen. »In den beiden zurückliegenden Wochen, sagst du?« »Ja.«
»Wohin sind sie alle gegangen?«
»Mit dem Verlassen der Abtei endet unsere Verantwortung für sie, und wir müssen nicht wissen, wohin sie sich wenden. Ich nehme an, sie haben einander ermutigt, diesen Schritt zu tun, sind wie Schafe dem Herdentrieb gefolgt - waren nur darauf aus, von hier wegzukommen und sich einem Leben des Müßiggangs hinzugeben.«
Eadulf sah sie mit großen Augen an. »Haben ihre Ehemänner . haben ihre früheren Ehemänner«, berichtigte er sich, als er merkte, wie sie die Stirn runzelte, »davon gewusst, dass sie von hier weggehen? Hat man ihnen gesagt, dass ihre Frauen und Kinder die Abtei verlassen?«
»Es ist nicht unsere Aufgabe, sie davon in Kenntnis zu setzen oder dafür Sorge zu tragen, dass diese Frauen, die sich dem Klosterleben entziehen, es denen mitteilen, mit denen sie früher ehelich verbunden waren«, erklärte Äbtissin Audofleda gereizt.