Fidelma schaute zu dem hoch aufragenden Hügel empor, auf dem sich etliche Gebäude um ein massives Bauwerk scharten, das schon von weitem den Eindruck einer bedeutenden Abtei erweckte. Der Schiffer nickte. Seine Kenntnisse des Lateinischen, der einzigen Sprache, in der sie miteinander reden konnten, waren bescheiden, reichten jedoch aus, sich verständlich zu machen. »Das ist die Abtei Nebirnum«, bestätigte er. »Dort könnt ihr euch für den letzten Teil eurer Reise Pferde beschaffen.«
Eadulf, der neben Fidelma saß, zuckte zusammen. »Müssen wir unbedingt reiten?«, fragte er besorgt. »Wie weit ist es von hier bis Autun?«
Clodio, der mit seinen beiden kräftigen Söhnen das Flussschiff in Fahrt hielt, betrachtete den Mönch mit unverhohlenem Spott. »Von Nebirnum bis zur großen Stadt Autun dauert es zwei bis drei Tage, wenn man gemächlich reitet. Die Straße ist gut, einfach nur geradeaus nach Osten.«
Eine Woche lang waren sie auf dem Boot unterwegs gewesen. Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, dass sie im Hafen von Naoned in Armorica gelandet waren, wo ihre Reise auf dem mächtigen Liger begonnen hatte. Außer ihnen gab es keine weiteren Passagiere, dennoch war es auf dem kleinen Frachtschiff recht beengt. Der Bootsführer trieb in den Orten am Ufer Handel, beförderte unförmige Warenballen und manchmal sogar Lebendvieh von einer Stadt zur anderen, die an der sich durchs Land windenden Wasserstraße lagen. Ständig musste das Schiff gegen die Strömung des Flusses ankämpfen, der über 600 Meilen entfernt in den Bergen entsprang. Mitunter war die Strömung auch schwach, so dass sie ein Segel setzen konnten. Öfter noch waren lange Stangen nötig, um das Fahrzeug voranzustaken. Lief aber das klare grünliche Wasser über seichte Stellen mit gelben Kieseln, zogen Maultiere auf dem Treidelpfad das Frachtschiff flussaufwärts. Fidelma war beeindruckt, mit welcher Umsicht und Sicherheit Clodio und seine Söhne das Boot zunächst ostwärts und dann südwärts auf dem breiten Strom steuerten. Stets waren sie in Bewegung und stemmten sich gegen die Gewalt des Stroms, der in seiner Mitte ab und zu Inseln umfloss, auf denen sich urtümliche Wildnis ausbreitete. Besonders die Frauen blieben den Fahrgästen in Erinnerung, die an den Ufern Wäsche wuschen und die nassen Wäschestücke unermüdlich gegen Felsplatten schlugen. Mitunter waren es ganze Gruppen von Wäscherinnen, manchmal auch nur eine einzelne Magd.
»Wo werden wir aber Pferde auftreiben können? Pferde kosten Geld«, meinte Fidelma besorgt.
»Was bekommt man auf Erden schon umsonst?«, fragte Clodio weltklug. »Umherziehende Klosterleute erwarten immer, dass man ihnen alles umsonst gibt für einen hastig gemurmelten Segensspruch. Das wäre ein herrliches Leben, wenn alles so einfach wäre, liebe Freunde, aber ich muss meine Frau und meine Söhne ernähren.«
Fidelma runzelte die Stirn, denn sie glaubte, er unterstellte ihnen, ihre Fahrt nicht bezahlen zu wollen. »Schiffsführer, wir hatten uns doch auf eine Summe geeinigt, wenn du uns vom Hafen in Noaned hierherbringst«, erinnerte sie ihn streng. »War das nicht ein angemessener Betrag? Jetzt nähern wir uns dem Ziel, und folglich ist es an der Zeit, das Vereinbarte zu zahlen.«
»So habe ich das nicht gemeint«, stammelte Clodio verlegen. Doch Fidelma hatte schon in ihr marsu-pium gegriffen, zählte die Münzen ab und drückte sie ihm in die Hand.
»Merk es dir gut, Schiffsführer, ein umherziehender Ordensmann muss nicht gleich ein Bettler sein«, sagte sie belehrend.
Eadulf beobachtete seine Gefährtin und hoffte, sie würde sich nicht verleiten lassen, mit ihrer Verwandtschaft, den Königen von Muman, zu prahlen. »Redime te captivum quam minimo«, brummelte er und zitierte die uralte lateinische Verhaltensregel für Legionäre, die in Gefangenschaft gerieten: Gerätst du in Gefangenschaft, kaufe dich für möglichst wenig Lösegeld frei. Oder anders ausgedrückt: Gib dem Feind nur das Nötigste preis. Falls Clodio sie für vermögend hielt, könnte Habgier ihn verleiten, sie als Geiseln festzuhalten und Lösegeld zu verlangen. Ea-dulf hatte des öfteren Geschichten über Pilger gehört, die in entfernte Länder gezogen waren und irgendwo in Gefangenschaft gerieten, weil man von ihnen Lösegeld erpressen wollte, oder die spurlos verschwunden blieben. Fidelma gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass sie begriffen hatte, und wandte sich dem Schiffer zu. »Wir haben versprochen zu zahlen, und das haben wir nun getan. Wenn das auch den Rest unserer Reise erschweren wird, denn Pferde können wir uns nicht leisten«, erwiderte sie leise.
Clodio nickte, schloss die Hand um die Münzen und ließ sie in seinen Lederbeutel am Gürtel gleiten. »Herr der Abtei ist Bischof Arigius, der wird euch weiterhelfen. Er genießt großes Ansehen.«
Dann wies er seine Söhne an, die Ruder einzuziehen, warnte alle mit einem Schrei, sich zu ducken, riss an einem Seil und ließ das Segel herunter. Sogleich stand er wieder an der Ruderpinne und lenkte sein Fahrzeug mit geübtem Schwung an einen aus dicken Bohlen gezimmerten Pier. Binnen kurzem waren sie vertäut, und die Söhne des Schiffers halfen Fidelma und Eadulf von Bord.
Clodio schaute die beiden an. »Viel Glück auf eurer Reise, meine Freunde«, rief er. »Geht die Straße da hinauf in die Stadt, und bald steht ihr vor den Toren der Abtei. Vergesst nicht, Bischof Arigius heißt der Abt, den ihr aufsuchen wollt.«
Sie verabschiedeten sich von Clodio und seinen Söhnen, die sogleich begannen, die mitgeführten Waren auszuladen. Schon näherten sich Kaufleute und Schaulustige dem Hafendamm, um die Ladung in Augenschein zu nehmen. Fidelma und Eadulf aber schlugen den Weg in die Stadt ein. Eadulf hatte bereits auf dem Schiff die Hitze der Frühsommersonne verspürt, doch jetzt an Land traf sie ihn mit solcher Kraft ins Gesicht und auf die Schultern, dass ihm der Schweiß ausbrach und er nur unter Anstrengung Atem schöpfte.
»Das kann ich dir sagen, Fidelma«, begann er, stieß jedoch im selben Moment mit der Sandale an einen vorwitzig aus dem Pflaster ragenden Stein, dass er beinahe hingeschlagen wäre. Mit Mühe konnte er sich noch halten und schimpfte: »Von unserer ewigen Umherreiserei habe ich nun langsam genug.«
Fidelma sah ihn nur freudlos an. »Meinst du etwa, ich nicht? Seit unser Alchü geboren ist, habe ich mich herzlich wenig um unseren Sohn kümmern können. Schandbar wenig. Als wir vor ein paar Monaten nach Tara zurückkehrten, dachte ich, nun könnten wir eine Weile in Cashel bleiben bis ... na, jedenfalls bis auf absehbare Zeit.«
»Wir hätten doch ablehnen können, diese Reise zu unternehmen«, bemerkte Eadulf.
»Die Pflicht ist oberstes Gebot«, erwiderte Fidelma mit Nachdruck. »Wenn mein Bruder, der König, mich auffordert, seinen Bischof, Segdae von Imleach, hierher als Ratgeber zu begleiten, dann ist es meine Pflicht, das zu tun. Du hättest ja nicht mitkommen müssen.«
»Mein Platz ist dort, wo du bist«, entgegnete Eadulf einfach.
Fidelma legte ihm eine Hand auf den Arm. »Das verlange ich doch gar nicht, Eadulf«, meinte sie sacht.
»Hast du nicht eben gesagt, zuoberst steht die Pflicht?«, fragte er und hob eine Augenbraue. »Welche Pflicht steht höher als die moralischen Bande zwischen uns? Also stell nicht in Frage, worin meine Pflicht besteht. Ich kann bloß nicht einsehen, warum so ein Konzil der Kirchenoberen ausgerechnet in Gallien stattfinden muss .«
»Von Gallien ist nicht mehr viel übrig,« berichtigte sie ihn. »Die Franken haben das ganze Gebiet ringsum erobert und sich hier niedergelassen. Sie haben das Land in die Königreiche Austrasien und Neustrien geteilt, und die Herrscher sind zwei Brüder, wie ich gehört habe.«
»Wo genau wir uns befinden, ist mir im Grunde genommen gleich. Was ich nicht begreife, ist, warum ein Konzil der Kirchenführer in so einem abgelegenen Winkel wie diesem Einfluss auf die fünf Königreiche von Eireann haben soll oder auf die britannischen oder angelsächsischen Königtümer.« »Vielleicht nicht gleich, aber eines Tages könnten sich die in Autun gefassten Beschlüsse auch bei uns auswirken. Deshalb hielt man es für notwendig, dass Bischof Segdae hierher reist, als Vitalianus, der Bischof von Rom, alle Vertreter der westlichen Kirchen aufrief, sich an diesem Ort zu versammeln. Du weißt, die Vorstellungen, die wir uns in Eireann vom Christentum gemacht haben, und die Riten, die wir befolgen, werden von den neuen, von Rom ausgehenden Bestrebungen bedroht. Sie sind mit unseren Gesetzen und unserer Art zu leben nicht vereinbar.«