»Du meist wie eine Gefangene?«, hauchte Schwester Inginde.
»Wie eine Gefangene«, bekräftigte Eadulf.
Die junge Nonne schüttelte den Kopf. »Hier gibt es kein Gelass, in dem man jemanden verstecken könnte. Ich kenne hier jeden Winkel. Nein, du musst dich damit abfinden, die arme Valretrade hat die Abtei verlassen - und wer weiß, wo man sie hingebracht hat.«
»Auch andere Frauen und Kinder aus dieser Gemeinschaft sollen vor kurzem verschwunden sein.«
»Ja, das stimmt. Uns hat man erklärt, sie hätten nicht länger nach den von der abbatissa aufgestellten Regeln leben wollen.«
»Wurde in dem Zusammenhang vielleicht die Villa der Gräfin Beretrude erwähnt?«
Das Mädchen erschrak. »Gräfin Beretrude? Was soll die damit zu tun haben?«
»Könnten die Verschwundenen von hier nach dort geschafft worden sein?«
Forschend schaute ihn Schwester Inginde an. »Weißt du, dass Schwester Radegund eine Verwandte von . «, begann sie.
Man hörte, wie eine Tür aufging.
»Gräme dich nicht. Nicht mehr lange, und wir haben die Lösung, das verspreche ich.« In seinem Eifer, dem beunruhigten hübschen Mädchen etwas Gutes zu tun, wagte sich Eadulf leichtfertigerweise weit vor. »Wir vermuten, die Lösung des Geheimnisses liegt in Beretrudes Villa. Glaub mir, alles wird sich bald aufklären.«
Ohne eine Antwort zog sich das Mädchen in den Schatten der Nische zurück, während Eadulf dem Ausgang zustrebte.
»Du lässt dir ja reichlich Zeit beim Gehen«, vernahm er Schwester Radegunds Stimme verdächtig nah hinter sich. »Ich muss wohl einen falschen Gang erwischt haben.« Eadulf wandte sich um und gab sich reumütig.
»Dann werde ich dir zeigen, wo es langgeht.« Schwester Radegund rauschte mit festem Schritt an ihm vorbei, und er folgte ihr.
»Ich habe mich gewundert, dass du und Äbtissin Audofleda gestern nicht auf dem Empfang von Gräfin Beretrude wart«, versuchte er mit ihr ins Gespräch zu kommen.
»Der Empfang war nur für die zum Konzil Entsandten und ihre Berater«, fertigte sie ihn kurz ab.
Eadulf wurde noch etwas kühner und brachte ins Spiel, was Bruder Budnouen ihm erzählt hatte: »Könnte es sein, dass Gräfin Beretrude die Äbtissin nicht eingeladen hat, weil ihr deren früheres Leben in Divio missfällt?« Schwester Radegund blieb stehen. Sie war puterrot geworden. »Meine ... Gräfin Beretrude ist ...« Sie geriet ins Stocken.
»Wolltest du sagen ... ist >meine Mutter<? Du siehst ihr sehr ähnlich.« Er war überzeugt, es könnte ihm nicht weiter schaden, diese Vermutung zu äußern.
Rasch hatte sich Schwester Radegund gefasst. »Gräfin Beretrude ist meine Tante. Und dessen schäme ich mich nicht. Du hast bereits eine Menge in Erfahrung gebracht.« »Aber es reicht noch nicht.«
Er bekam keine Antwort. Sie hatte sich schon wieder umgedreht. An der Haupttür angelangt, schob sie die Riegelbolzen zurück. Eadulf hätte gern weiter mit ihr geredet, doch sie hob die Hand und zeigte auf die geöffnete Pforte. Mit den Worten »Vade inpace« wies sie ihn aus dem Haus.
Eadulf blieb keine andere Wahl, als zu gehen.
Bei seiner Rückkehr fand er Fidelma schlummernd vor. An der Tür saß ein kräftig gebauter junger Klosterbruder aus Imleach, den Abt Segdae dort als Leibwächter postiert hatte. Eadulf flüsterte ein paar Worte mit ihm, entschied sich aber, Fidelma schlafen zu lassen. Schlaf war stets ein guter Heiler. Er würde einstweilen Bruder Sigeric in der Bibliothek aufsuchen.
Bruder Sigeric war nicht im scriptorium, doch traf er dort den Verwalter, Bruder Chilperic, an, der sich auf einer Tontafel mit Zahlenkolonnen beschäftigte. Mit einem gequälten Lächeln schaute der Mönch auf.
»Die Abrechnung der Ausgaben und Einnahmen«, sagte er und legte den Stilus beiseite. »Diese Aufgabe ist mir zuwider. Man kommt sich vor wie ein Händler, wenn man zusammenzählt, was die Abtei kostet. Der Bischof nimmt es sehr genau damit, wir dürfen nicht in Schulden geraten.« Er machte eine Pause. »Kann ich dir behilflich sein, Bruder?«
Eadulf wollte schon mit »Nein« antworten, als ihm einfieclass="underline" »Kennst du Bruder Andica?«
»Natürlich«, hieß es sofort. »Weshalb fragst du?«
»Ich bin ihm vor kurzem begegnet.«
»Er ist einer unserer Steinmetze. Ein begnadeter Handwerker.«
»Stammt er aus dieser Gegend?«
»Ob er Burgunde ist? Ja, ist er. Warum?«
»Ich denke mir, ein Steinmetz könnte in einer Stadt wie dieser eine gute Entlohnung verlangen und würde nie ohne Arbeit sein. Vermutlich aber wollte er in religiösem Eifer unserem Glauben dienen.«
»Ganz so ist das nicht. Fromm und ergeben ist er eigentlich nicht. Er ist stolz auf seine Stadt und sein Volk. Ich fürchte, dieser Stolz wird ihm eines Tages noch Ungelegenheiten bringen.«
Eadulf hob fragend eine Braue, und der Verwalter wurde vertraulich. »Unser Bischof ist Franke, wie ich dir erzählt habe, und pflegt gute Beziehungen zum Herrscherhaus. Bruder Andica fallt es mitunter schwer, seinen Stolz zu bändigen. Einoder zweimal hat der Bischof ihm schon Vorhaltungen machen müssen wegen respektloser Äußerungen über unsere fränkischen Herrscher.«
»Es gibt Leute, denen geht ihre Herkunft über alles.«
»Ein jeder von uns kann auf sein Volk stolz sein, aber wenn wir in einer religiösen Gemeinschaft dienen, dann dienen wir doch allen Menschen, dann ist die Christenheit gewissermaßen unsere Nation.«
»Und doch fällt es vielen schwer, den Stolz auf ihr eigenes Volk zu überwinden; wir brauchen nur an Cadfan und Ordgar zu denken.«
Der Verwalter überlegte ein wenig. »Jetzt, da ihnen erlaubt wurde, sich auch außerhalb ihrer Gemächer zu bewegen, schreiten sie in der Abtei auf und ab wie ruhelose Bestien. Ich war einmal in Rom und habe da Löwen im Käfig gesehen, Großkatzen, die man aus irgendeinem Winkel der Erde dorthingebracht hatte. So kommen mir jedenfalls der Abt und der Bischof vor. Bislang haben sie einander gemieden. Ich hoffe inständig, dass ihr bald die Entscheidung trefft, wer der Schuldige ist, bevor noch ein Mord geschieht.«
»Noch ein Mord?«
»Ich bin sicher, wenn die aufeinander treffen, bringt einer den anderen um.«
»Ganz so einfach lässt sich eine Entscheidung nicht erzwingen. Es geht darum, die Wahrheit herauszufinden.« »Seid ihr der Wahrheit wenigstens nähergekommen?« »Es braucht seine Zeit.«
»Ah ja, tempus omnia revelat«, intonierte Bruder Chilperic frommen Sinnes. »Die Zeit enthüllt alles. Das ist eine gesunde Einstellung Bruder Eadulf, doch mitunter können Ergebnisse und erst recht Menschen nicht länger warten. Ich meine das ernst, Bruder. Es könnte der Augenblick kommen, da der Bischof euch erklärt, >Folgt dem Rat, den Horaz uns in seinen Epistulae gab.<«
Eadulf kramte in seinem Gedächtnis. »Ich fürchte, ich weiß damit nichts anzufangen.«
»Ihr habt genug gespielt, habt genug gegessen und getrunken«, zitierte Bruder Chilperic spöttisch.
»Willst du mich warnen? Beabsichtigt er, unseren Nachforschungen ein Ende zu setzen?«
»Verbum satsapienti«, erwiderte der Verwalter selbstgefällig. Dem Weisen genügt ein Wort.
»Will er nicht wissen, wer der Schuldige ist?«
»Es ist ihm wichtiger, dass dieses Konzil zusammentritt und die von Rom erwarteten Beschlüsse fasst. Nur weil ihr dem Nuntius Peregrinus bekannt seid, bezähmt der Bischof seine Ungeduld ... gegenwärtig jedenfalls. Aber er meint, wir können nicht ewig warten.«
»Ewig wird es auch nicht mehr dauern«, erwiderte Eadulf gereizt. »Sobald wir die Wahrheit kennen, halten wir nicht mit ihr zurück.« Er drehte sich um und verließ das scriptorium ohne ein weiteres Wort.