»Wird gemacht«, versicherte ihr Eadulf. »Trotzdem, dein tollkühner Versuch bereitet mir Sorge. Wenn ich mir vorstelle, was dir alles zustoßen könnte, allein in der Dunkelheit und .«
»Ich habe ja nicht die Absicht, im Dunklen umherzustreifen«, meinte sie zuversichtlich. »Ich ziehe gleich jetzt los, und es ist hell lichter Tag. Ich hoffe, noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder hier zu sein. Mach dir keine Sorgen. Ich komme zurück. Versprochen.«
Ehe Eadulf weitere Bedenken vorbringen konnte, war sie gegangen.
Fidelma verließ die Abtei, überquerte rasch den großen Vorplatz und lief durch die Straßen, mit denen sie inzwischen vertraut war. In diesem, vom Handelszentrum abgelegenen Teil der Stadt waren verhältnismäßig wenige Leute und nur ein oder zwei Reiter unterwegs. Ab und zu ratterte auch ein Gefährt vorbei und verschwand in den engen Gassen. Die Passanten, denen sie begegnete, nickten ihr freundlich zu oder murmelten einen Gruß.
Schon bald hatte sie die breite Straße erreicht, in die sie einbiegen musste, wollte sie zum Benignus-Platz und zu Gräfin Beretrudes Villa gelangen. Rechts hinten an der Ecke war das Geschäft, das Kleider und andere Sachen zum Anziehen anpries. Zielgerichtet strebte Fidelma dorthin. Sie war zuversichtlich, hier etwas Geeignetes zu finden, um sich ein anderes Aussehen zu geben. Draußen hingen verschiedene Kleidungsstücke zum Verkauf, Kleider, Schals, Röcke, Umhänge, alles Mögliche. An der Türschwelle blieb Fidelma stehen und lugte in das dunkle Innere des Ladens. Eine ältere Frau erhob sich von ihrem Stuhl, legte das Stück, an dem sie arbeitete, aus der Hand und sprach sie in der gutturalen Sprechweise der Burgunden an. Fidelma vermutete dahinter eine Begrüßung oder die Frage, was sie zu ihr führte.
»Sprichst du Latein?«
Die Frau schaute sie verständnislos an.
Fidelma versuchte es in einfachen Worten mit Angelsächsisch und kam damit auch nicht weiter. Sie deutete auf die draußen hängenden Sachen. »Ich brauche etwas zum Anziehen«, sagte sie langsam.
Neugierig starrte die Alte sie von oben bis unten an, denn auch wenn Fidelma nicht die fromme Tracht der Schwestern aus dem Kloster von Autun trug, so verrieten sie doch das Kruzifix und ihr Habit als eine Nonne.
Fidelma begriff, dass eine Verständigung schwierig werden würde. Sie zeigte ein weiteres Mal auf ein Kleid, das ihr geeignet erschien, und zog die Augenbrauen fragend hoch.
»Wie teuer?« In der Hoffnung, die einfachen Wörter würden in beiden Sprachen ähnlich sein, war sie wieder ins Angelsächsische gefallen.
Die alte Frau hob die Hand und reckte einen Finger in die Höhe, bevor sie sich zu einer Tür hinten im Raum wandte und nach jemandem rief. Man hörte ein leises Rascheln, und eine junge Nonne erschien.
Obwohl sie sich nur im Dunklen bei Kerzenschein begegnet waren, erkannte Fidelma das Mädchen sofort, und der ging es umgekehrt nicht anders.
»Schwester Inginde! Ich hätte nicht gedacht, dass dir gestattet ist, das domus feminarum zu verlassen.«
Das junge Mädchen schaute sie ein, zwei Augenblicke überrascht an und verzog dann das Gesicht zu einem Lächeln.
»Schwester Fidelma! Das hier ist meine Tante, und da es ihr in letzter Zeit nicht sonderlich gut ging, hat man mir ausnahmsweise erlaubt, sie zu besuchen.«
»Tatsächlich?«
»Was führt dich hierher, Schwester Fidelma? Weißt du was Neues von Valretrade?«
Fidelma hielt es für besser, zuerst die zweite Frage zu beantworten.
»Neues habe ich nicht in Erfahrung gebracht, aber aufgegeben habe ich auch nicht. Und hier bin ich, weil ich ein paar Kleidungsstücke kaufen möchte.«
Schwester Inginde war etwas ratlos. »Meine Tante näht eigentlich keine Nonnentrachten, sie bessert nur hier und da mal was für uns aus.«
»Es geht mir auch nicht um eine Nonnentracht. Ich möchte etwas, worin ich mich frei in der Stadt bewegen kann, ohne gleich erkannt zu werden.«
Das Mädchen streifte sie mit einem neugierigen Blick. Fidelma ging einen Schritt weiter. »Ich brauche etwas Einfaches, möchte ohne lange Erklärungen hier und da eingelassen werden und Auskünfte erhalten, die ich für nötig erachte.«
»Dann müssen wir dir auf jeden Fall helfen.« Inginde redete auf ihre Tante ein. Die Alte maß Fidelma mit kritischem Blick und sagte dann etwas, woraufhin Schwester Inginde nickte. »Meine Tante meint, du dürftest nicht zu grelle Farben wählen. Dein rotes Haar ist schon auffallend genug. Sie würde dir zu dunklen Farben raten, ein Kleid und darüber einen Umhang mit Kapuze, um das Haar zu verbergen.« Die Frau nahm ein graubraunes Kleid von einem Haken und hielt es Fidelma an. »Das müsste deine Größe sein, meint sie«, übersetzte Inginde.
Sie wählten ein paar Stücke aus. Fidelma probierte sie an und entschied sich für das Kleid, ein Umschlagtuch und eine Kapuze, damit ihr rotes Haar und die helle Haut nicht gleich jedem auffielen.
Schwester Inginde war mit der Ausstattung zufrieden. »So kannst du in aller Ruhe durch die Stadt spazieren, ohne Aufsehen zu erregen.«
Fidelma betrachtete sich im Spiegel, den ihr die alte Frau hinhielt. »Ja, das ist gut so.« Das Kreuz hatte sie nicht abgenommen, es blieb unter der Kleidung verborgen. Sie zeigte auf ihr ciorbolg, ihr Kammtäschchen, in dem sie einige Toilettenartikel hatte und das in ihrem Land eine Frau stets bei sich trug. »Das werde ich mitnehmen, aber die anderen Sachen lasse ich hier und hole sie später wieder ab.«
»Wohin willst du?«, fragte Schwester Inginde neugierig. »Es ist besser, wenn du es nicht weißt«, erwiderte Fidelma.
Inginde machte ein bekümmertes Gesicht. »Ich könnte aber vielleicht helfen.«
Fidelma schüttelte den Kopf. »Im domus feminarum wartet man sicher auf dich. Wie viel schulde ich deiner Tante für die Sachen?«
Wieder kam es zu einem flinken Wortaustausch zwischen den beiden.
»Meine Tante sagt, sie nimmt keine Bezahlung, weil du hilfst, eine Freundin von mir zu finden. Deine eigenen Sachen hebt sie auf, bis du sie holen kommst.«
Fidelma bedankte sich und verließ den Laden. Gemächlich schritt sie einher, den Kopf ein wenig vorgestreckt, wie sie es bei anderen Frauen in der Stadt gesehen hatte. Ihr nächstes Ziel war Gräfin Beretrudes Villa. Der eine oder andere nickte ihr im Vorbeigehen zu, manchmal grüßte man sie auch in der Landessprache; die wenigen Worte kannte sie inzwischen und konnte sie sogar erwidern. Schnell hatte sie sich an ihre neue Rolle gewöhnt. Am Benignus-Platz spähte sie zu dem plätschernden Springbrunnen und weiter hinten zu den Eingangstoren der Villa. Das Symbol auf den Steinsäulen links und rechts von den Toren bestärkte ihren Verdacht. Der einsame Wächter stand auch heute auf seinem Posten. Langsam überquerte sie den Platz. Sie war bemüht, den schlendernden Gang beizubehalten, und steuerte auf die Seitenstraße zu, die an der hohen Mauer des Villengeländes vorbeiführte.
Die Straße machte einen verlassenen Eindruck. Dann vernahm sie das Geräusch von Laufschritten auf dem Platz. Eine Männerstimme rief etwas, das Tor öffnete sich, und sie hörte Stimmengewirr. Reglos blieb sie eine Weile stehen, aber es tauchte niemand auf, der ihr hätte folgen können. Wenig später lief sie die gesamte Länge der Begrenzungsmauer ab. Sie kam an ein mit einem Eisenriegel abgesperrtes Tor, das man in eine nach oben hin gewölbte Maueröffnung gesetzt hatte. Vermutlich handelte es sich um das Tor, von dem Eadulf gesprochen hatte und durch das Verbas die Gefangenen getrieben hatte. Sie schaute sich vorsichtig um, stellte fest, dass es verschlossen war, und ging weiter. Außer diesem versperrten Zugang schien es keine andere Möglichkeit zu geben, durch oder über die Mauer in das Innere des Anwesens zu gelangen, ohne gesehen zu werden.
Schon fürchtete sie, ihr Plan, die Villa zu erkunden, würde scheitern, da sich hier kein Schlupfloch fand.Und einen der Diener zu beschwatzen, sie einzulassen, war schwierig, denn in welcher Sprache wollte sie sich mit ihm verständigen? Sie beschloss, um die Villa herumzuwandern.