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Hinten kam sie zu dem engen Durchgang, wo Eadulf Ver-bas mit den Gefangenen gesehen hatte. Aber sie entdeckte beim besten Willen nichts, kein Tor, keine Stelle, wo sie hätte über die Mauer klettern können.

Sie näherte sich dem Ende des schmalen Weges, als sie zu beiden Seiten drohende Schatten gewahr wurde. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, stürzten sich mehrere Männer auf sie. Verzweifelt versuchte sie, sich zu befreien. Sie verspürte einen furchtbaren Schmerz am Hinterkopf, dann wurde es schwarz um sie herum.

Fieberhaft schritt Eadulf im calefactorium auf und ab und verharrte nur gelegentlich, um einen Blick zum dunkel werdenden Himmel zu werfen.

Abt Segdae, der in ein Gespräch mit einem seiner Landsleute vertieft gewesen war, fiel Eadulfs Unruhe auf. »Was ist mit dir, Bruder Eadulf?« fragte er ihn schließlich. »Wenn du so weiter machst, hast du bald Dellen in den Steinfußboden getreten.«

Eadulf blieb stehen. »Es ist wegen Fidelma. Es wird immer später, und sie ist noch nicht zurück.«

»Sie hat ihren eigenen Kopf, das weißt du genausogut wie ich, mein Sohn«, beschwichtigte ihn Abt Segdae. »Gibt es einen besonderen Grund, dass du sie just zu dieser Zeit zurückerwartest?«

»Ich habe Angst, ihr könnte etwas zugestoßen sein«, murmelte Eadulf. »Heute Nachmittag hat sie die Abtei verlassen und wollte zu Gräfin Beretrude. Na ja, nicht unbedingt zu ihr; sie wollte, von anderen unbeobachtet, sich etwas eingehender in der Villa umtun.«

Der Abt sah ihn erstaunt an. »Wieso das? Was hat sie dazu getrieben?«

Eadulf war sich nicht sicher, wieweit er den Abt ins Vertrauen ziehen konnte. Wiederum brauchte er einen Verbündeten, sollte sich herausstellen, dass Fidelma in Gefahr war.

»Sie glaubt, Beretrude ist an den Todesfällen hier nicht ganz unbeteiligt, und fürchtet, sie ist auch in andere merkwürdige Vorgänge, die die Abtei betreffen, verwickelt.«

Abt Segdae wollte seinen Ohren nicht trauen.

»Ich verstehe überhaupt nichts. Was soll Gräfin Beretrude mit dem Tod von Abt Dabhoc zu tun haben, wenn ...«

Da auch Eadulf Fidelmas Logik nicht ganz hatte folgen können, hielt er es für das Beste, sich an die Tatsachen zu halten, die der Abt würde nachvollziehen können. »Erinnerst du dich an Tara und unsere Begegnung dort mit einem fremdländischen Kaufmann namens Verbas von Peqini, einem Sklavenhalter? Dieser Mann ist hier, und zwar in Gräfin Beretrudes Villa. Er schwor damals, er würde sich eines Tages an Fidelma rächen. Falls sie jetzt auf ihn getroffen ist .«

Abt Segdae kannte Eadulf gut genug, um zu wissen, dass er nicht unnütz Alarm schlug. »Wann wollte Fidelma wieder hier sein?«

»Sie sagte, sie würde nicht lange bleiben und vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein.«

»Es fängt gerade erst an, dunkel zu werden«, tröstete ihn Abt Segdae.

»Ich habe trotzdem meine Befürchtungen. Die Sonne ist bereits hinter den Dächern verschwunden, und Fidelma ist immer noch nicht da.«

»Wir dürfen nichts überstürzen«, mahnte der Abt, und vorwurfsvoll fügte er hinzu: »Ich halte es für sehr unklug von Fidelma, allein gegangen zu sein.«

»Glaubst du, ich mache mir keine Vorwürfe, dass ich sie habe gehen lassen?«, rief Eadulf erregt. »Ich hätte darauf bestehen müssen, sie zu begleiten.«

Abt Segdae legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Aequam memento rebus in arduis servare mentem«, zitierte er und gab so Eadulf den weisen Rat, in einer schwierigen Situation Ruhe zu bewahren.

»Wir können nicht tatenlos herumsitzen«, drängte der.

»Ich habe ihr versprochen, in der Abtei zu bleiben, um im Notfall einen Freund um Hilfe zu bitten. Ich kann von hier nicht fort, ohne dass noch ein anderer weiß, was vor sich geht.« »Wir sollten abwarten, bis es vollends dunkel ist, mein Sohn. Dann magst du tun, was du tun musst, während ich zu Bischof Leodegar gehen und ihn aufforderen werde, mich zu Gräfin Beretrudes Villa zu begleiten.«

»Mit jedem Moment, der verstreicht, wird mir deutlicher, sie ist in Gefahr«, begehrte Eadulf angstvoll auf.

»Bleib ruhig, Bruder. Nur wenn wir Ruhe bewahren, wird sich alles zum Guten wenden.«

KAPITEL 20

Der schwarze Nebel lichtete sich. Fidelma erwachte allmählich aus der Ohnmacht. Eine junge Frau beugte sich über sie. War sie es, die ihr die Stirn mit einem feuchten Lappen abgetupft hatte? Fidelma blinzelte. Im Schädel pochte und hämmerte es. Der Mund war ihr so ausgetrocknet, dass es schmerzte. Sie wollte sich aufsetzen, sank aber augenblicklich stöhnend zurück, ihr wurde übel. Blassblaue Augen betrachteten sie besorgt.

Die junge Frau hielt ihr einen Becher mit Wasser hin und sagte etwas in der Landessprache. Was sie sagte, konnte Fidelma erraten. Sie nahm vorsichtig ein oder zwei kleine Schlucke und widerstand der Versuchung, den Becher in einem Zug auszutrinken. Das Wasser war kalt. Es kam ihr beinahe süß vor. Genießerisch schloss sie einen Moment die Augen.

Sie schaute um sich und begriff, dass sie auf Stroh in einer Ecke eines düsteren Gewölbes lag. Es gab nur einen Ausgang, vier breite Steinstufen führten hoch zur Tür. Auf einer Seite war oben in der Wand ein kleines Fenster, doch draußen war es dunkel. Ein paar Kerzen spendeten ein flackerndes, Schatten werfendes Licht. In dem Maße, wie sie die Umwelt aufnahm, drangen Gemurmel und Kinderstimmen an ihr Ohr. Abermals versuchte sie, sich aufzurichten. Die junge Frau schob ihr einen Arm unter den Rücken und stützte sie beim Sitzen. Sie sagte wieder etwas, das Fidelma nicht verstand. »Latein«, murmelte Fidelma. »Sprichst du Latein?« »Ja natürlich. Ich habe gefragt, wie du dich fühlst.« «Mir ist der Mund wie ausgedörrt, und der Kopf tut weh.« Wieder wurde ihr der Becher an die Lippen gehalten, sie nahm einen Schluck, der Becher wurde abgesetzt. Fidelma wimmerte vor Schmerz und glitt zurück auf das Strohlager. »Was ist mit mir passiert? Wo bin ich?«, fragte sie.

»Vor ein paar Stunden haben sie dich hierhergebracht. Ich bekam es schon mit der Angst zu tun, weil du gar nicht wach wurdest.«

Fidelma befühlte ihren Kopf. Da war ein Verband. Das Mädchen verfolgte ihre Bewegungen.

»Ich habe deine Wunde verbunden. Sie hat geblutet, ist aber nicht schlimm. Rundherum ist alles geschwollen. Du bleibst besser ruhig liegen. Wie ist es überhaupt dazu gekommen?«

»Jemand hat mich hinterrücks niedergeschlagen. Wo bin ich?«

»In einem Kellergewölbe«, erklärte ihr das Mädchen mit ernstem Gesicht. »Ich bin seit einer Woche hier, andere von uns schon an die drei Wochen.«

»Und wo genau das Kellergewölbe ist, weißt du nicht?« »Doch, in der Villa von Gräfin Beretrude in der Stadt Autun.«

Mit einiger Mühe wandte Fidelma den Kopf und erkannte nun, dass da dreißig oder noch mehr Frauen waren, die an den Wänden saßen, und etliche Kinder. Alle hockten auf Strohschüttungen und unterhielten sich nur flüsternd. Möbel gab es nicht, nur einen Stapel Decken und mehrere Bündel Stroh, und in einer Ecke standen ein paar Krüge und Becher. Die meisten Frauen trugen ein einfaches Nonnengewand. Langsam fing Fidelma wieder an, folgerichtig zu denken.

»Du bist wie eine aus dem Ort gekleidet, dabei bist du doch gar nicht von hier, nicht wahr?«, fragte die junge Frau.

»Ich komme aus einem Land, das ihr Hibernia nennt. Ich bin Schwester Fidelma.«

»Eine Klosterschwester vom äußersten Rand der Welt.« Die Frau, die sich ihrer angenommen hatte, hielt ihr wieder den Becher mit Wasser hin. »Was sagtest du eben? Wie heißt du?«

»Fidelma. In meinem Land ist das ein üblicher Name.« »Und warum trägst du die hiesige Tracht einer Frau vom Lande?« Neugierig nahm sie Fidelmas Kleidung in Augenschein.

»Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte sie. »Und wer bist du?«