Jetzt kamen Bischof Leodegar und Bruder Chilperic; sie würden die Morgenandacht abhalten. Der Bischof wandte sich zum Altar und war im Begriff, die Andacht zu eröffnen. Er schien die Unruhe um sich herum nicht wahrzunehmen, stutzte dann aber doch und drehte sich verärgert zur Gemeinde um. Im gleichen Augenblick erschallte eine schrille Frauenstimme: »Das ist verboten!«
Äbtissin Audofleda war aufgestanden, so dass sie jedermann hinter der Trennwand sehen konnte. Mit ausgestrecktem Arm zeigte sie auf Fidelma und Valretrade.
Bischof Leodegars Blick ging in die Richtung, in die sie wies. Der Kiefer klappte ihm herunter, als er Fidelma und Valretrade erkannte.
»Wie soll ich das verstehen? Du hier, Fidelma von Cashel?
Man hat mir gesagt, du wärest verschwunden, Bruder Ea-dulf und Abt Segdae wollten mich sogar auf die Suche nach dir schicken. Und was hat die andere Frau da unter den Brüdern zu suchen, wo doch ...«
»Die beiden entweihen unsere Kapelle, setzen sich frech auf die allein für die Brüder vorgesehenen Plätze«, unterbrach ihn Äbtissin Audofleda.
Bischof Leodegar geriet außer sich. »Ich verlange eine Erklärung, Schwester Fidelma. Erst bist du verschwunden, und nun tauchst du plötzlich aus der Versenkung auf. Und neben dir eine Frau, wo du genau weißt, dass in dieser Abtei Mönche und Nonnen getrennt leben und dass es keinem Weib gestattet ist, dort zu sitzen. Dir allein habe ich den Aufenthalt im Kloster zugestanden.«
Fidelma legte Valretrade bestärkend eine Hand auf die Schulter. »Ich will es erklären. Ich wollte es eigentlich erst nach dem Morgengebet tun, aber wenn du jetzt Wert darauf legst, bitteschön. Ich bin hier erschienen, und zwar mit Zeugen, um das Geheimnis hinter den Vorgängen, die sich in deiner Abtei abgespielt haben, zu lüften. Ich erbitte deine Vollmacht, das tun zu dürfen, Bischof Leodegar.«
»Ich kann nicht zulassen .«, stammelte er, doch Abt Segdae schnitt ihm das Wort ab. Er hatte sich erhoben und erklärte: »Als ranghöchster Gesandter von Hibernia kann ich bezeugen, dass du Fidelma von Cashel und Bruder Eadulf beauftragt hast, den Mord an Abt Dabhoc zu untersuchen und abschließend vorzutragen, wen sie für schuldig halten.«
Inzwischen hatte sich Nuntius Peregrinus zu Abt Segdae gestellt, und unmittelbar neben ihm stand sein ständiger Schatten, der verbissen dreinschauende custos.
»Als Emissär des Heiligen Vaters in Rom«, sprach der Nuntius, »erinnere ich dich an die von dir erteilte Vollmacht. Gleich mir sind anwesend Bischof Ordgar von Kent und Abt Cadfan von Gwynedd, die nicht weniger begierig sind als du, Schwester Fidelmas Ausführungen zu hören. Ich mache dich darauf aufmerksam, dass du irrst, wenn du sagst, du könntest ihre Rede nicht zulassen.«
Bischof Leodegar fühlte sich in die Enge getrieben, konnte sich aber dennoch zu keinem Entschluss durchringen. »Auch wir möchten hören, was Fidelma von Cashel zu verkünden hat«, rief einer der Delegierten, Abt Herenal von Bro Erech, und erhielt lautstarke Unterstützung aus der Menge.
Bruder Chilperic flüsterte Leodegar etwas zu, woraufhin der ein langes Gesicht machte. Doch ehe er etwas sagen konnte, mischte sich erneut Äbtissin Audofleda ein. »Fidelma ist eine Verschwörerin, die mit Vorbedacht unsere Morgenandacht stören will.«
»Das ist eine törichte Behauptung; damit soll nur verhindert werden, dass die Wahrheit zu Gehör gebracht wird. Mit welchem Recht sagt sie das?«, fragte Fidelma.
Neben der Äbtissin war über der Trennwand plötzlich ein weiterer Kopf aufgetaucht. »Das Recht dazu hat sie dank meiner Vollmacht«, ertönte eine Frauenstimme; die Person riss die Kapuze vom Kopf und gab sich für die Mehrheit der erschrockenen Gemeinde als Gräfin Beretrude zu erkennen. Am meisten aber erregte ihre Anwesenheit Bischof Leodegar.
»Gräfin Beretrude, hier geht es um geistliche Verantwortlichkeiten.« Er rang nach Luft. »Deine Meinungsäußerung in Ehren, aber du kannst nicht ...«
»Ich kann nicht?«, schnitt sie ihm mit drohender Stimme das Wort ab. »Du weißt um meine Macht in der Stadt und im Land Burgund, Leodegar. Sollte es daran Zweifel geben, dann werde ich sie euch zeigen.« Sie klatschte zweimal in die Hände.
Ein Dutzend Mönche, die am Rande der Kapelle gestanden hatten, warfen die Kutten ab, entpuppten sich als Krieger und drängten nach vorn. Alle hielten ein Schwert in der Hand. Im Nu herrschte Chaos.
Fidelma lächelte dem besorgt dreinblickenden Abt Segdae beruhigend zu. Das alles kam für sie nicht unerwartet. »Keine Angst«, flüsterte sie. »Jeden Moment ist Hilfe da.«
»Bist du jetzt gewillt, dich meiner Macht zu beugen, Bischof Leodegar?«, fragte Gräfin Beretrude laut.
»Nein, vielmehr wirst du dich meiner beugen«, erschallte eine kalte Männerstimme.
Langsam schritt der junge König Chlothar, gefolgt von Ebroin, Eadulf und Sigeric durch den Mittelgang zum Hochaltar. Hinter der Gruppe spazierte etwas gelangweilt Graf Guntram herein, flankiert von zwei von Chlothars Kriegern. Bischof Leodegar und Bruder Chilperic erstarrten und waren unfähig, auf den weiteren Gang der Ereignisse Einfluss zu nehmen.
Fidelma schaute sich um. Chlothars gut gerüstete Männer, die aus allen Nischen der Kapelle zu strömen schienen, hatten die zwölf Krieger von Beretrude bereits entwaffnet. Die wenigen, die sich zur Wehr gesetzt hatten, lagen leblos am Boden. Es herrschte ohrenbetäubender Lärm, doch Ebroin schaffte Ordnung. Er trat vor und stieß seinen Amtsstab kräftig auf den Steinfußboden.
»Ruhe!«, gebot er. »Ruhe! Huldigt eurem Herrscher Chlo-thar, dem dritten seines Namens, der das Haus der Merowinger regiert. Heil dir, Chlothar! Heil unserem rechtmäßigen König!«
Es gelang ihm, die Menge zu beschwichtigen. Er bedeutete seinen Leuten, alle Ausgänge zu sichern. Nicht ohne Genugtuung wandte er sich dann Bischof Leodegar zu. »Mit deiner Erlaubnis werden wir die Holzwand dort entfernen, die die Frauen von uns trennt. Ich gehe gewiss sicher in der Annahme, dass Gräfin Beretrude sich ebenfalls unter die Gemeinde mischen möchte.«
Ohne Bischof Leodegars Zustimmung abzuwarten, winkte er einigen Kriegern zu, die sich rasch ans Werk machten und die Holzgitter abbauten. Gemurmel aus der Menge begleitete ihre Arbeit. Beretrude hatte sich nicht vom Fleck gerührt, das Gesicht eine verzerrte Maske und kreidebleich, neben ihr Äbtissin Audofleda mit gesenktem Kopf.
Der junge König stand mit ineinander verschränkten Armen vor dem Hochaltar und schaute ernst auf die Versammelten. Einer nach dem anderen fiel in erwartungsvolles Schweigen. Schließlich drehte er sich zu Bischof Leodegar um.
»Ein Stuhl wäre mir höchst willkommen, Bischof. Wir dürften eine Menge zu hören bekommen, und ich bin seit etlichen Stunden auf den Beinen.«
Geflissentlich schaffte Bruder Chilperic einen Stuhl herbei und stellte ihn so vor den Altar, dass der König sich der Gemeinde zugewandt setzen konnte.
»Wir werden im Folgenden bei Latein als unserer lingua franca bleiben, zumal allen hier Versammelten diese Sprache nicht fremd ist«, verkündete er. »Bist du bereit, mit deinen Ausführungen zu beginnen, Fidelma von Cas-hel?«
Fidelma trat einen Schritt vor, verneigte sich kurz vor Chlothar und wandte sich der Gemeinde zu. »Ich bin bereit, Majestät«, erwiderte sie und flüsterte Eadulf, der nicht weit von ihr entfent stand, zu: »Gut gemacht. Du siehst, dem Wagemutigen steht das Glück zur Seite.«
»Ich halte es mehr mit einem anderen Spruch: >Der richtige Zeitpunkt macht Geschichte<«, entgegnete er lakonisch. Rasch raunte sie noch Bruder Sigeric, der sich neben Eadulf eingereiht hatte, ins Ohr: »Du kannst dich zu Valretrade stellen.«
Freudig tat der junge Mann, wie ihm geheißen; Valretrade und Sigeric fassten sich bei den Händen, und ihre strahlenden Gesichter waren beredtes Zeugnis ihrer inneren Bewegung.
»Nimm das Wort, Fidelma«, forderte der König sie auf.