Nuntius Peregrinus unterbrach sie ein weiteres Mal.
»Eine Frage muss ich noch stellen: Das Reliquienkästchen von Benignus. Wo ist es jetzt?«
»In sicheren Händen.« Fidelma nickte Abt Segdae zu, der unter seinem Sitz einen Sack hervorzog, das Kästchen ans Tageslicht beförderte und es für alle sichtbar in die Höhe hielt.
»Das hier ist das Reliquiar des hibernischen Lehrers Be-nen Mac Sesenen, den wir auch Benignus nennen«, verkündete er. »Er hatte nichts mit dem Benignus von Burgund, wie ihr ihn kennt, zu tun.«
»Das ist alles gut und schön«, meldete sich Bischof Leodegar ungehalten zu Wort. »Deinen Aussagen zufolge wurde Abt Dabhoc nicht in Ordgars Zimmer, sondern in seinem eigenen ermordet, und das Reliquienkästchen hier wurde gestohlen. Du hast auch gesagt, warum. Du hast weiterhin festgestellt, dass Andica und Inginde zwei der Mörder waren. Noch bist du uns aber den Namen des Dritten im Bunde schuldig, des Kopfes der Verschwörerbande, des zweiten Sohnes von Beretrude, der, wie du sagst, sich hier in der Abtei unter falschem Namen aufhält.«
»Guntram, würdest du uns bitte noch einmal sagen, wie dein jüngerer Bruder hieß, ehe er ins Kloster kam?« Achselzuckend gab der zur Antwort: »Er hieß Gundobad. Aber erwarte nicht von mir, dass ich ihn erkenne. Als ich ihn zuletzt gesehen habe, war er ein kleiner Junge.«
»Du hast mir verraten, dass deine Mutter auch einen Kosenamen für ihn hatte.«
»Der wird nicht viel helfen. Sie nannte ihn Benignus - der Gute.«
»Da haben wir’s, Benignus.« Fidelma lächelte.
Ärgerlich wehrte Bischof Leodegar ab. »Einen Bruder Benignus haben wir hier nicht.«
»Überlege genau. Denke an jemand, der ...«
Plötzlich gellte ein Schrei durch die Kapelle: »Sic semper tyrannis«. Bruder Benevolentia hatte ein Messer gezückt und stürzte auf Chlothar zu.
Ein Surren war zu vernehmen, gefolgt von einem Aufprall. Zwei Pfeile hatten sich in Bruder Benevolentias Brust gebohrt. Einen Moment stand er wie erstarrt. Dann entglitt das Messer seinen Fingern, langsam sank er auf die Knie und fiel zur Seite. Beretrude kreischte auf und wurde ohnmächtig. Einer der Krieger eilte zu Benevolentia, drehte ihn auf den Rücken und meldete Chlothar:
»Tot, Majestät.«
Der König, der aufgesprungen war, setzte sich wieder und atmete erleichtert auf.
»Schade, er hat uns um eine ordentliche Hinrichtung gebracht«, bemerkte Ebroin trocken. »Einer, der es Brutus gleichtun wollte, als er Julius Caesar erschlug, hat keinen raschen Tod verdient.«
»Das verstehe ich nicht«, meinte Chlothar verstimmt. »Seine letzten Worte, Majestät, die soll auch Brutus ausgerufen haben, als er den großen Caesar mit dem Dolch erstach. >So soll es Tyrannen stets ergehen!<«
Ein Ausdruck der Trauer huschte über Chlothars Gesicht. »Ich möchte ein gerechter Herrscher sein, kein Tyrann.« »Dein Wort in Ehren, Majestät«, erwiderte Ebroin. »Nur darfst du nicht vergessen, du hast es mit Burgunden zu tun. Du musst ebenso ein starker und unnachgiebiger Herrscher sein.«
Bischof Leodegar trat an die Leiche des jungen Mönchs und betrachtete sie. Dann wanderte sein Blick zu Fidelma. »Hast du die ganze Zeit gewusst, dass es Bruder Benevolentia war?«
»Ich hatte schon eine Weile bei ihm ein ungutes Gefühl.
Er ähnelte auffallend Beretrude, Guntram und auch Radegund, hatte wie sie dunkles Haar und blaue Augen. Er war außerdem der Einzige, der Gelegenheit gehabt hatte, etwas in Ordgars Wein zu mischen, im Grunde genommen auch den Mord zu begehen. Aber wirklich Verdacht schöpfte ich erst, als er in der Galerie auftauchte, die ja zu betreten den Mönchen verboten war, eben zu dem Zeitpunkt, da Andica versuchte, uns mit dem umstürzenden Standbild zu erschlagen. Was hatte er dort zu suchen, und wieso wusste er so genau über all die Statuen Bescheid, wusste, wie lange sie dort schon standen? Dazu kam die Sache mit seinem Namen.«
»Benevolentia ist eine Form von Benignus«, murmelte Bischof Leodegar.
»Gewissermaßen ein Synonym«, bestätigte Eadulf, der sich zum ersten Mal äußerte, seit Fidelma mit ihren Darlegungen begonnen hatte. »Beide Namen bedeuten dasselbe.«
Jetzt trat Bischof Ordgar näher heran und schaute betroffen auf den Leichnam seines ehemaligen Kämmerers.
»Mir will das alles nicht in den Kopf. Er war mein Kämmerer. Ich habe ihn mir selbst ausgesucht.«
»Ja, du hast uns erzählt, dass du nach Divio gereist bist und dein Kammerherr unterwegs gestorben ist. In der Abtei von Divio hättest du einen neuen gefunden«, nahm ihm Eadulf die Erklärung ab.
»Ja, so war es.«
»Bleibt nur die Frage, ob du ihn dir wirklich selbst ausgesucht hast oder ob er dir seine Dienste anbot.«
»Tja, er . wie soll ich sagen, ich glaube, er trat an mich heran«, gestand der angelsächsische Bischof ein. »Gundobad beziehungsweise Benevolentia, ein Anhänger von Burgund und ein Nachkomme der burgundischen Königsgeschlechter, kam also hierher mit dem festen Plan, Chlothar zu ermorden und einen Aufstand anzuzetteln«, fasste Eadulf zusammen. »Dann hörte er, wie Fidelma ausgeführt hat, zufällig von Abt Dabhocs Geschenk für den Papst, der Reliquie des heiligen Benignus. Ein besseres Symbol konnte es gar nicht geben, dachte er. Dass es sich um die Reliquie eines ganz anderen Benignus handelte, war für ihn unwesentlich. Er brauchte nur das Symbol.«
»Eine seltsame Geschichte«, meinte Bischof Leodegar. »Und eine verwickelte dazu.«
»Nichts ist einfach im Leben«, sagte Fidelma leise.
»Die Männer, die mich im Wald überfallen und den gallischen Bruder ermordet haben, waren das Krieger von Be-retrude?«, fragte Chlothar. Er hatte sich erhoben und kam weiter nach vorn.
»Es waren Krieger von Beretrude, die sie vermutlich auf Eadulf und mich angesetzt hatte. Ihr Anführer hatte das Kreuz des Benignus bei sich, das gleiche Symbol, das auch die Säulen am Tor ihrer Villa tragen. Wahrscheinlich sollten die Krieger Eadulf und mir auflauern und uns aus dem Hinterhalt überfallen. Ganz offensichtlich hatten Benevolentia und seine Mutter Sorge, wir könnten ihr Vorhaben gefährden. Du, Chlothar, bist ihnen entweder in die Quere gekommen, oder sie haben dich bei der Jagd erkannt und hielten die Gelegenheit für günstig, dich gleich dort umzubringen.«
»Wer also sind nun die Schuldigen?«, frage Ebroin. »Beretrude und Inginde? Beretrudes Krieger - sonst niemand weiter? Was ist mit Guntram?«
Der junge Graf war blass geworden vor Angst. Noch immer wurde er von zwei Kriegern bewacht. Er tat Fidelma regelrecht leid.
»Das einzige, was man Guntram vorwerfen kann, ist, dass er seinen Untertanen ein schlechter Herr ist. Er kümmert sich nur um seine eigenen Vergnügungen und nicht um ihr Wohlergehen. Aber dich zu stürzen, Chlothar, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Für ihn ist nur wichtig, dass seine Untertanen ihm regelmäßig ihre Abgaben leisten, damit er keine Abstriche an seinem Lebensstil machen muss.«
»Und wie steht es mit Äbtissin Audofleda?«
»Ihr muss man zur Last legen, dass sie eine völlig ungeeignete Person für die Leitung eines frommen Hauses ist. Aber das ist eine Sache, die zwischen ihr und dem Bischof zu klären ist.« Fidelma wandte sich an Bischof Leodegar. »Du kannst dich jetzt deinem Konzil widmen, Leodegar. Deine Ansichten unterscheiden sich von denen meines Volkes, deine Gesetze sind nicht unsere Gesetze, und die Auffassungen, die du durchsetzen möchtest, um unseren Glauben einer allumfassenden Regelschrift unterzuordnen, kann ich nicht gutheißen. Ich sehe nur, dass die Dinge, die du nachhaltig unterstützt, großes Leid nach sich ziehen und keine Einheit der Gläubigen bringen. Was mich betrifft, so wünsche ich nichts sehnlicher, als in mein Land heimkehren zu dürfen.« Bischof Leodegar gab sich wieder als der Alte - selbstsicher und von oben herab.