»Ich muß gestehen, daß du mir manchmal Rätsel aufgibst, Bob. Aber selbstverständlich, wenn du…« Plötzlich riß Lovecraft erstaunt die Augen weit auf. »Runter, Bob! Hinter den Wagen! Schnell!«
»Was…?«
Ein Pfeil schwirrte durch die Luft und flog knapp an Howards linkem Ohr vorbei. Dann noch einer und noch einer. Ein Geschoß prallte widerlich dumpf von der Seite des Wagens ab. Und ein weiterer Pfeil traf direkt und steckte zentimetertief zitternd im Metall.
Howard wirbelte herum. Er sah Reiter, ein Dutzend, vielleicht auch anderthalb Dutzend, die aus der Finsternis im Osten herangeprescht kamen und ihre Pfeile auf sie abschossen.
Es waren magere kräftige Männer von irgendwie orientalischem Typ in karmesinrotem Lederwams, die ritten wie die Teufel. Ihre Reittiere waren kleine flachnasige glutäugige graue Dämonenpferde, die dahinpreschten, als könnten die kurzen stampfenden Beine sie ohne einen Augenblick der Rast bis ans Ende der Niederwelt tragen.
Die gelbhäutigen Krieger sangen und johlten, wie von wilder Wut gepackt. Mongolen? Türken? Was immer sie sein mochten, sie donnerten wie die Sendboten des Todes selbst auf den Landrover zu. Einige schwangen lange bösartig gekrümmte Klingen, doch die meisten hatten kleine seltsam geformte Bogen, von denen sie mit erstaunlicher Schnelligkeit ganze Schauer von Pfeilen verschossen.
Neben Lovecraft hinter dem Landrover kauernd, starrte Howard den Angreifern verblüfft und wie gelähmt entgegen. Wie oft hatte er solche Szenen beschrieben? Wehende Federn, starrende Lanzen, eine fauchende pfeifende Wolke von ellenlangen Lanzenschäften! Donnernde Pferdehufe, wildes Kriegsgeschrei, das Prasseln der Pfeilspitzen der Barbaren gegen die Schilde Aquiloniens! Sich bäumende Rösser, die ihre Reiter abwarfen… Ritter in blutbedeckter Rüstung, die auf den Boden geworfen wurden… stahlgepanzerte Gestalten über das wellige Schlachtfeld verteilt…
Aber was sich jetzt hier abspielte, das war keine Saga von ›hyboreanischen‹ Nordlandkriegern, die einen Ringelreihentanz veranstalten. Hier handelte es sich um reale Reiter — so wirklich wie alles andere an diesem Ort — und sie kamen über die kalte windgepeitschte Ebene am Rand der Nachwelt herangeprescht. Und die Pfeile waren echte Pfeile, und sie würden sich wirklich tief in sein Fleisch bohren und echte Schmerzen bereiten, höchst schrecklich qualvolle.
Er blickte zu Gilgamesch hinüber. Der sumerische Riesenkerl kauerte hinter dem umgedrehten Rumpf seiner Jagdbeute. Den Riesenbogen hielt er in den Händen. Howard starrte beklommen und voll Ehrfurcht hinüber, und dann schoß Gilgamesch. Der Pfeil traf den ersten Reiter und drang durch das Wams und den Brustkorb und ragte aus seinem Rücken hervor. Dennoch gelang es ihm, während er heranstürmte, noch einen letzten Pfeil abzuschießen, ehe er stürzte. Das Geschoß schwirrte in unsicherem Bogen rasch und schwankend und zischend auf Gilgamesch zu und durchbohrte das Fleisch des linken Unterarmes.
Kalt blickte der Sumerer auf den Pfeil in seinem Arm. Dann runzelte er die Stirn und schüttelte den Kopf, etwa so, als hätte ihn eine Wespe gestochen. Dann — genau wie Conan es getan haben könnte, Himmel, wie sehr das an Conan erinnerte! — legte Gilgamesch den Kopf schief gegen die Schulter und biß den Pfeil dicht über den Federn entzwei. Helles Blut spritzte aus der Wunde, als er die zwei Stücke herauszog.
Und als wäre weiter nichts von Wichtigkeit geschehen, hob Gilgamesch seinen Bogen und griff nach einem zweiten Pfeil. Das Blut floß in kleinen Bächen den Arm hinab, doch er schien es nicht einmal zu bemerken.
Howard schaute wie gelähmt zu. Er vermochte sich nicht zu bewegen, er konnte sogar kaum richtig atmen.
Eine dumpfe Übelkeit drohte ihn zu überwältigen. Es hatte ihm gar nichts ausgemacht, abgeschlagene Köpfe und Arme und Beine fröhlich unbekümmert in seinen Geschichten zu gewaltigen blutigen Haufen aufzutürmen, aber in Wirklichkeit hatten ihm Blutvergießen und jegliche Art von Gewalt Entsetzen eingeflößt, wo immer er auch nur den flüchtigsten Blick darauf erhascht hatte.
»Die Kanone, Bob!« rief Lovecraft drängend an seiner Seite. »Nimm doch deine Kanone!«
»Was?«
»Da. Da unten.«
Howard blickte nach unten. In seinem Gürtel steckte die Pistole, die er mit aus dem Wagen genommen hatte, als er sich das kleine Ungetier auf dem Weg näher ansehen wollte. Jetzt zog er die Waffe heraus und starrte sie stumpfäugig an, als wäre sie das Ei eines Basilisken in seiner Handfläche.
»Worauf wartest du denn?« fragte Lovecraft. »Aha. Ach so. Gib sie schon her!« Ungeduldig entriß er die Waffe den starren Fingern Howards und betrachtete sie kurz, als hätte er nie zuvor so etwas in der Hand gehabt. Wahrscheinlich hatte er das auch nicht. Dann aber packte er die Pistole mit beiden Händen, schaute vorsichtig über das Dach des Landrovers und gab einen Schuß ab.
Der laute Knall durchbrach die schrillen Schreie der Reiter. Lovecraft lachte. »Ich hab’ einen erwischt! Wer hätte je gedacht…«
Er feuerte erneut. Und im gleichen Augenblick erledigte Gilgamesch wieder einen von den Angreifern mit seinem Bogen.
»Sie ziehen sich zurück!« rief Lovecraft. »Bei Al-hazred, ich wette, damit haben sie nicht gerechnet!« Und er lachte wieder und hob zielend sein Schießeisen. »Ja!« brüllte er mit einer Stimme, wie Howard sie noch nie aus dem Mund des zurückhaltenden oberlehrerhaften Lovecraft gehört hatte. »Shub-Niggurath!« Lovecraft feuerte einen dritten Schuß ab. »Ph’nglui mglw’nafh Cthulhu R’lyeh wgah’nagl fhtagn!«
Howard spürte, wie ihm der Schweiß über den ganzen Körper rann. Diese seine Aktionsunfähigkeit — diese Gelähmtheit! — diese Schmach! — was hätte Conan in dieser Situation gemacht? Was Gilgamesch? Und Lovecraft, dieser scheue spießige Schulmeister, der sich vor den Fischen im Meer gefürchtet hatte, vor den kalten Winden in seinen Neu-England-Wintern und vor so vielen anderen Dingen, der stand da und lachte und grölte in seinem wundersamen Kauderwelsch und ballerte um sich wie irgendein Gangster, der sich einen Heidenspaß gönnt…
Ein Jammer! Eine Schande!
Howard achtete nicht auf die Gefahr, sondern kletterte auf den Wagen und tastete nach der zweiten Waffe, die da irgendwo auf dem Boden liegen mußte. Er fand sie und kniete sich hinter das Fenster. Sieben, acht der asiatischen Reiter lagen in einem Radius von etwa hundert Metern verstreut tot oder sterbend um den Wagen herum. Die übrigen hatten sich auf beträchtliche Entfernung zurückgezogen und kanterten unruhig im Kreis um sie herum. Offensichtlich waren sie von dem unerwartet heftigen Widerstand verwirrt, dem sie da begegnet waren, bei etwas, das sie wahrscheinlich für ein hübsches kleines Schlachtfest in diesen unerforschten Grenzbezirken gehalten hatten.
Und was taten sie jetzt? Sie zogen sich zu einem kleinen engen Trupp zusammen, die Pferde Nase an Nase. Sie hielten Beratung ab. Und dann zogen zwei von ihnen aus der Satteltasche etwas, das aussah wie eine Art Kriegsbanner und hoben es zwischen sich an Bambusstangen in die Höhe: eine lange gelbe Fahne mit flatternden blutroten Fransen, auf der in kantigen schwarzen asiatischen Lettern etwas stand. Die Sache wurde offensichtlich ernst. Und nun formierten sie sich zu einer Reihe gegenüber dem Landrover. Sie machten sich zu einem verzweifelten selbstmörderischen Sturm bereit — so sah das aus.