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Gilgamesch stand nun aufrecht und allen sichtbar da und setzte gelassen einen neuen Pfeil auf die Bogensehne. Er hob den Bogen und zielte und wartete ab. Lovecraft, der ganz rot vor Erregung aussah und völlig verwandelt durch die ihm fremden Wonnen eines Kampfes mit Waffen, beugte sich weit nach vorn, spähte gespannt hinaus und hatte die Pistole schußbereit im Anschlag.

Howard zitterte. Scham trieb ihm schmerzhaft die Sporen in die Flanken. Wie konnte er nur so feige hier kauern, während die anderen zwei die Last des Kampfes allein trugen? Obwohl seine Hand zitterte, richtete er die Waffe aus dem Fenster und zielte auf den ihm nächsten Reiter. Sein Finger krümmte sich am Abzug. War es möglich, auf die Entfernung zu treffen? Ja. Ja. Los! Du weißt doch, wie man mit Schußwaffen umgeht. Höchste Zeit, daß du etwas davon praktisch anwendest. Putz den miesen kleinen gelben Hund dort aus dem Sattel! Mit einem Huster aus deinem .38er Colt, ja! Schick ihn direkt in die nächste Welt — nein, geht nicht, er ist ja bereits in der nächsten Welt — also schick ihn ins Vergessen, bis er wieder an der Reihe ist, wieder hervorgezerrt zu werden, ja, so war’s richtig — fertig — zielen…

»Warte«, sagte Lovecraft. »Schieß nicht!«

Was war das? Während Howard, es kostete ihn einige Mühe, die Waffe sinken ließ und seine bebende steife Hand entspannte, starrte Lovecraft, die Augen mit der Hand gegen den geisterhaften Glast der geschwollenen roten Sonne schirmend, lange auf die feindlichen Krieger. Dann wandte er sich um und suchte im Fond des Wagens herum und brachte schließlich den braunen Umschlag zutage, in dem sich ihre Ernennungsurkunde von King Henry befand.

Und dann… aber was tat er denn?

Lovecraft trat mit hocherhobenen Armen aus der Deckung und schwenkte das Portefeuille durch die Luft und ging auf die Feinde zu?

»Die bringen dich um, H. P.! Runter, geh in Deckung!«

Ohne sich umzudrehen, bedeutete Lovecraft mit einer scharfen Geste, Howard solle den Mund halten, und schritt weiter stetig auf die Reiter in der Ferne zu. Sie schieben ebenso erstaunt wie Howard. Sie saßen bewegungslos, die Bogen gespannt, ein Dutzend Pfeile auf Lovecrafts Körpermitte gerichtet.

Jetzt ist er ganz durchgedreht, dachte Howard bestürzt. Aber eigentlich war er ja nie so ganz ausgeglichen, nicht wahr? Hat immer halb das Zeug geglaubt, das er über die Alten Götter und über Schleusen zwischen den Dimensionen und gotteslästerliche Riten in den dunklen Hügeln Neu-Englands schrieb. Und jetzt, bei der ganzen Schießerei — die Aufregung…

»Laßt eure Waffen sinken, ihr alle!« rief Lovecraft mit einer erstaunlich lauten und gebieterischen Stimme. »Im Namen des Priesters Johannes gebiete ich euch Einhalt! Senkt die Waffen! Wir sind nicht eure Feinde! Wir sind Abgesandte an euren Herrscher!«

Howard blieb die Luft weg. Er begann zu begreifen. Nein, Lovecraft war nicht wahnsinnig geworden!

Er betrachtete sich das lange Kriegsbanner erneut. Ja, natürlich, natürlich! Diese Wirbel und Schnörkel auf der Fahne: Das waren die Wappen des Priesterkönigs Johannes! Und diese blutrünstigen Reiter mußten zur Grenztruppe eben jenes Landes gehören, zu dessen Herrscher sie schon so lange unterwegs waren. Howard fühlte sich beschämt; er begriff, daß Lovecraft mitten in dem tobenden Kampf genug Vernunft gezeigt und sich die Zeit genommen hatte, sich das Banner genauer anzusehen und zu entziffern — und den Mut besessen hatte, vorzutreten und die diplomatische Legitimation hochzuhalten. Er hatte nun die Pergamentrolle mit ihrer Akkreditierung in der Hand und zeigte mit der anderen auf das schmale rote Band und das Sigill König Heinrichs.

Die Reiter spähten herüber, sie berieten sich untereinander und senkten die Bogen. Auch Gilgamesch ließ seinen Großbogen sinken und blickte erstaunt drein. »Seht ihr dies?« rief Lovecraft. »Wir sind Herolde von King Henry! Und wir verlangen den Schutz eures Herrn, des Erhabenen Herrschers Yeh-lu Ta-shth!« Mit einem Blick über die Schulter bedeutete er Howard, er solle an seine Seite treten, und nach nur ganz kurzem Zögern sprang der vom Landrover und trabte nach vorn. Ihm war recht unbehaglich dabei, als er sich diesen finsteren gelben Bogenschützen so preisgab. Es war beinahe so, als stünde man am Rand eines riesigen Abgrunds.

Lovecraft lächelte. »Alles wird gutgehen, Bob! Das Banner, das die da entrollten — es trägt die Zeichen des Priesterkönigs Johannes…«

»Ja. Ich erkenne es, ja.«

»Und siehst du? Sie geben das Zeichen für sicheres Geleit. Sie haben verstanden, was ich sagte, Bob! Sie glauben mir!«

Howard nickte. Eine große Erleichterung wallte in ihm hoch, ja sogar so etwas wie Freude. Herzhaft schlug er Lovecraft auf den Rücken. »Gute Arbeit, H. P.! Ich hätte nicht gedacht, daß das in dir steckt!« Und nun, da er seine Scheißangst zu überwinden begann, fühlte er, wie eine geradezu manische Hochstimmung sich seiner bemächtigte. Er winkte den Reitern zu, fuchtelte wild mit den Armen herum. »Holla! Wir sind Königliche Gesandte!« brüllte er. »Sendboten Seiner Britannischen Majestät des Achten Königs Heinrich! Bringt uns vor euren Herrscher!« Dann blickte er zu Gilgamesch hinüber, der mit zusammengezogenen Brauen dastand, den Bogen noch immer schußbereit. »Holla, auch du dort, König von Uruk! Laß auch du die Waffe sinken! Es ist jetzt alles in Ordnung! Man geleitet uns jetzt an den Hof des Priesterkönigs Johannes!«

4

Gilgamesch war gar nicht sicher, weshalb er sich bereitgefunden hatte mitzugehen. Ein Besuch am Hof des Priesterkönigs Johannes oder an einem sonstigen Hof interessierte ihn nicht im geringsten. Er wollte nichts weiter, als daß man ihn in Ruhe lasse, damit er durch die Wildnis streifen und jagen könne, um dabei ein wenig Linderung seines Kummers zu finden.

Doch dieser hagere Langhals und sein Freund, dieser rotgesichtige Prahlhans, hatten ihn höflich eingeladen, mit ihnen in ihrem Landrover zu fahren, und während er noch so dastand und stirnrunzelnd über das Angebot nachdachte, hatten die häßlichen flachgesichtigen kleinen gelben Krieger ihm mit ungeduldigen Gesten bedeutet, daß er besser in das Fahrzeug steigen solle. Und das tat er denn auch. Es sah so aus, als würden sie ihn durchaus gewaltsam dazu bringen, falls er sich weigerte, und wenn er auch keinerlei Furcht vor ihnen empfand, nicht die geringste Furcht, hatte etwas in ihm, das er noch nicht zu begreifen vermochte, ihn dazu veranlaßt, einem erneuten Kampf möglichst aus dem Weg zu gehen, und er war statt dessen lieber in dieses Fahrzeug gestiegen. Möglich auch, daß er für eine Weile genug davon hatte, allein zu jagen. Oder aber weil die Wunde in seinem Arm schmerzhaft zu toben begann, nachdem nun die Erregung wegen der Rangelei abgeklungen war, und es erschien ihm als eine vernünftige Verfahrensweise, einen Wundarzt die Sache ansehen zu lassen. Um die Verletzung herum war das ganze Fleisch schlimm geschwollen und verfärbt. Dieser Pfeil hatte ihn glatt durchschlagen. Er würde den Einschuß säubern und verbinden lassen; dann würde er weiterziehen.

Also schön, er reiste jetzt an den Hof des Priesters Johannes. Er hockte stumm und düster auf dem Rücksitz des dumpf riechenden von Schimmelflecken bedeckten Fahrzeugs und fuhr mit diesen zwei sehr drolligen Vertretern der Später Toten, diesen Schreibern oder Geschichtenerzählern oder was immer zu sein sie behaupteten, unter dem Geleit des Reitertrupps zum Lager ihres Herrschers, dieses Priesters Johannes.

Der Mann, der Howard hieß, der es nicht über sich bringen konnte, ihm ab und zu scheue flüchtige Blicke zuzuwerfen wie ein verliebtes Dienstmädchen, saß am Steuer. Wieder blickte er nach hinten und sagte: »Sag mir, Gilgamesch, hattest du früher schon einmal mit dem Priester Johannes zu tun?«

»Den Namen habe ich schon gehört, soweit ich mich erinnere«, antwortete der Sumerer. »Aber eigentlich bedeutet er mir nicht viel.«