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»Ein berühmter legendärer christlicher Herrscher«, sagte der andere, der hagere Mann, der Lovecraft hieß. »Von dem es heißt, daß er irgendwo in nebelhaften Fernen mitten in Zentralasien über ein verborgenes Königreich herrschte — obwohl es ja eigentlich in Afrika hätte sein müssen, wenn man gewissen anderen Quellen…«

Asien — Afrika — Namen, bloße Namen, dachte Gilgamesch düster. Orte irgendwo in dieser anderen Welt, der Schattenwelt, aus der er schon so lange fortgegangen war. Er hatte keine Ahnung, wo diese Länder liegen mochten.

Was für ein Übermaß von Gegenden und Namen dafür! Kein Vernünftiger konnte das alles noch überschauen. Es war sinnlos. Die Welt — seine Erste Welt, die im ›Land‹ — war begrenzt gewesen von den Zwei Strömen, Idigna und Buranunu, welche die Griechen später als Tigris und Euphrates bezeichnet hatten. Aber wer waren die Griechen, und mit welchem Recht benannten sie die Ströme um? Alle benutzten jetzt diese neuen Namen, sogar er, Gilgamesch, selbst — außer ganz tief in seinem Herzen.

Und über die zwei Ströme hinaus? Nun, dort lag weit im Osten der Vasallenstaat Haratta, erinnerte er sich, und da lag auch das Zedernland, wo der feueratmende Dämon Huwawa herumfauchte und brüllte, und in den östlichen Bergen lag das Königreich der elamitischen Barbaren. Im Norden lag das Uri genannte Land, und in der Wüste im Westen hausten die unzivilisierten Martustämme, und im Süden lag die gesegnete Insel Dilmun, die wie das Paradies war. Hatte es da eine Welt jenseits dieser Welt gegeben? Gewiß, da war noch Meluhha, in weiter Ferne, jenseits von Elam, wo das Volk eine schwarze Haut hat und feine, noble Gesichter: und dann im Süden das Land Punt, wo sie ebenfalls dunkelhäutig waren, mit platten Nasen und dicken Lippen; und dann gab es da noch ein Land weit hinter Meluhha, wo Leute mit gelber Haut lebten, die einen kostbaren grünen Stein aus der Erde gruben. Und dies war die Welt, die er gekannt hatte, als er noch in der Welt lebte, dieser anderen Welt, die er so kurz nur durchwanderte, ehe er in diese Welt des Ewigen Lebens kam. Aber offenbar hatte es in jener anderen Welt andere Gegenden gegeben, Orte, von denen er keine Ahnung hatte oder die nach seiner Zeit entstanden waren. Wo mochten sie liegen, diese anderen Orte aus den Letzten Tagen der Anderen Welt, dieses Afrika, dieses Asien, dieses Europa und der Rest, Rom, Griechenland, England? Vielleicht waren das ja teilweise nur neue Namen für alte Orte. Das Land hatte ja auch eine Vielzahl von Namen getragen, seit seiner Zeit — Babylonien, Mesopotamien, Irak und andere. Wieso brauchte es diese ganzen Namen? Er wußte es nicht. Neue Männer erfanden oft neue Namen; es schien der Lauf der Welt zu sein. Dieses Afrika, dieses Asien — Amerika, China, Rußland — ein kleiner Grieche namens Herodot hatte einst versucht, es ihm zu erklären, wie die Welt gestaltet sei und die Namen der Orte auf ihr, indem er auf einem Stück alten Pergaments eine Zeichnung anfertigte, und viel später hatte ein Starrkopf namens Mercator das ebenfalls getan, und später hatte er sich dann darüber mit einem Engländer namens Cook unterhalten; aber was diese Leute ihm sagten, war in sich alles widersprüchlich und ergab für ihn überhaupt keinen Sinn. Es war allerdings auch etwas viel verlangt, da einen Sinn zu sehen. Diese Tausende von Nationen, die nach seiner Zeit aufgetaucht waren, diese Großreiche, die entstanden und wieder zerfallen und vergessen waren, all diese verschwundenen Herrschergeschlechter, die Häuptlinge und Könige — hin und wieder hatte er sich bemüht, ihre Reihenfolge zu merken, aber vergeblich. Einst, in seinem früheren Leben, ja, da hatte er danach gestrebt, Meisterschaft in allen Wissensgebieten zu erlangen. Sein Appetit war grenzenlos gewesen, sein Hunger: nach Wissen, nach Reichtum, nach Macht, nach Weibern, nach dem Leben an sich. Jetzt erschien ihm das alles als reinste Torheit. Und das Gewirr verwirrter und verwirrender Namen von Orten, die großen Reiche und fernen Königtümer, sie gehörten in eine andere Welt, was konnten sie ihm jetzt bedeuten?

»Asien?« fragte er sich. »Afrika?« Er zuckte die Achseln. »Der Priesterkönig Johannes?« Er suchte in den untersten trägen vollbeladenen Strudeln seiner Erinnerung. »Aha. Da haben wir einen Priester Johannes. Ich glaube, er lebt in Roma Nova. Ein dunkelhäutiger Mann, ein Freund von diesem frechen alten Lügner Sir John Mandeville.« Nun kam es ihm wieder ins Gedächtnis. »Ja, ich habe sie oft beisammen gesehen, in der dreckigen verkommenen Taverne, in der man den Mandeville immer antreffen kann. Und die zwei erzählen sich gegenseitig absonderliche Geschichten, wobei der eine ein noch größerer Schwindler ist als der andere.«

»Ein anderer Priester Johannes«, sagte Lovecraft.

»Dieser da ist Susenyos der Äthiopier, glaube ich«, sagte Howard. »Ein ehemaliger afrikanischer Tyrann, er liebte die Jesuiten, und jetzt ist er ein schwerer Whiskeysäufer. Er ist nur einer von vielen. Meiner sicheren Kenntnis nach treiben sich in der Nachwelt hier sieben, neun oder ein Dutzend Priester Johannesse herum. Vielleicht sogar noch mehr.«

Gilgamesch betrachtete diese Bemerkung ohne Aufmerksamkeit und Interesse. Ihm lief der Schmerz von seiner Pfeilwunde jetzt brennend den Arm auf und nieder.

Lovecraft sagte: »…gar kein echter Name, sondern nur ein Titel, und außerdem noch ein verderbter. Es hat nie einen wirklichen Priester Johannes gegeben, sondern nur verschiedene Herrscher in verschiedenen fernen Ländern, und es gefiel den Geschichtenspinnern in Europa sie jeweils Priester Johannes zu nennen, den Christenkaiser, den großen geheimnisvollen unbekannten Monarchen eines sagenhaften Reiches. Und so gibt es hier in der Nachwelt viele, die sich diesen Namen zulegten. Er bringt Macht mit sich, verstehst du?«

»Macht und Majestät!« rief Howard laut. »Und Poesie, bei Gott!«

»Also ist dieser Priester John, zu dem wir jetzt fahren«, fragte Gilgamesch, »in Wirklichkeit gar nicht der Priesterkönig?«

»Yeh-lu Ta-shih ist sein richtiger Name«, sagte Howard. »Chinesisch. Eigentlich mandschurisch, aus dem zwölften Jahrhundert der Neuen Zeitrechnung. Der erste Herrscher des Großreichs Kara-Khitai mit der Kaiserstadt Samarkand. Herrschte hauptsächlich über Horden von Mongolen- und Turkstämmen, und sie nannten ihn Gur-Khan, was ›Höchster Herrscher‹ bedeutet, und das hat sich irgendwie auf dem Weg nach Europa damals zu ›Johann‹ gemausert. Und man behauptete auch, daß er ein christlicher Priester gewesen sei, Presbyter Johannes.« Howard lachte. »Diese verdammten blöden Kerle. Der war genauso wenig ein Christ wie du. Buddhist war er, ein verfluchter schamanistischer Buddhist.«

»Aber wieso dann…?«

»Mythen und Verworrenheit!« sagte Howard. »Die gewaltige Unsinnsfabrik der Menschheitsgeschichte in Betrieb! Und wie hätte es anders sein können, als er hierher in die Nachwelt kam, dieser Yeh-lu Ta-shih, verschaffte er sich prompt wieder ein Großreich auf einem vergleichbaren Territorium wie seinerzeit drüben, und als Richard Burton in diese Gegend kam und ihm vom Priester Johannes erzählte, daß die Europäer ihn vor langer Zeit bei diesem Namen nannten und ihm alle erdenklichen sagenhaften Großtaten zuschrieben, sagte er: Ja, ich bin wahrlich der Priesterkönig Johannes. Und jetzt stilisiert er sich als das, er und ein Dutzend andere, die meisten davon Äthiopier wie dieser Freund deines Freundes Mandeville.«

»Sie sind nicht meine Freunde«, sagte Gilgamesch steif. Er lehnte sich zurück und knetete seinen schmerzenden Arm. Die Landschaft draußen veränderte sich: Sie wurde hügeliger, bestanden von unattraktiven dickstämmigen kleinen Bäumen, die seltsam schief aus dem roten Boden wuchsen. Seine scharfen Augen machten hier und dort verstreute Gruppen schwarzer Zelte an den Hängen aus und Herden dieser kleinen Dämonenpferde, die in ihrer Nähe weideten. Gilgamesch wünschte inzwischen, er hätte sich nicht zu dieser Expedition überreden lassen. Wozu brauchte er einen Priester Johann? Einen der ärgerlichsten Parvenüs unter den Potentaten der Späten Toten, einen von diesen unzähligen Kleinfürstchen, die sich hier in den endlosen Wüstengebieten des Outback unbedeutende Domänen errichtet hatten — und der regierte noch dazu unter falschem Namen —, ein schäbiger Schuft mehr, einer mehr von diesen aufgeblasenen kleinen Niemands, die vor unverdientem Stolz fast platzen…