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Dann geleitete man ihn in den Großen Kaisersaal, in dem bereits der ganze Hof versammelt war, eine glänzende, prachtvolle Menge Menschen. Es war irgendeine Art Konzert im Gange, sieben feierlich-ernste Musiker produzierten eine kreischende, schrille und näselnde Musik. Gongs schepperten, eine Fanfare schmetterte, Trompeten tröteten, Pfeifen gaben gespenstische durchdringende Töne von sich. Diener geleiteten Gilgamesch zu einem Ehrenplatz auf einem Berg von pelzigen Decken, die mit Samtkissen übersät waren.

Lovecraft und Howard waren bereits anwesend, wie Gilgamesch in prächtige Seidenroben gekleidet. Beide wirkten ein wenig verwirrt, ja sogar außer sich. Howard war hochrot und übertrieben agil, er konnte kaum stillsitzen; er lachte und fuchtelte mit den Armen und trommelte mit den Fersen auf die Pelzdecken, ganz wie ein kleiner Junge, der etwas ganz Schlimmes angestellt hat und jetzt davon abzulenken versucht, indem er sich hyperaktiv aufführt. Lovecraft hingegen wirkte benommen und verwirrt und hatte den glasäugigen Blick wie einer, der gerade auf den Kopf geschlagen worden ist.

Die beiden sind wirklich sehr seltsame Männer, dachte Gilgamesch.

Der eine gibt sich riesige Mühe, laut und lustig zu wirken, und dann kriegst du plötzlich einen flüchtigen Einblick in eine Seele, die von wüsten Phantasieträumen mit zuckenden Schwertern und Strömen von Blut übersprudelt. Aber in Wirklichkeit hat er schreckliche Angst vor allem. Der andere dagegen, der ist so unheimlich abweisend und nüchtern und anscheinend nicht ganz so verrückt, doch auch er macht den Eindruck, als liege er im Krieg mit sich selber, als fürchte er sich entsetzlich davor, daß ein wirkliches echtes menschliches Gefühl die wohlkalkulierte Oberfläche seiner Manierismen durchbrechen könnte. Diese armen Narren müssen zu Tode erschrocken sein, als die Sklavenmädchen anfingen, sie auszuziehen, sie mit warmer Milch zu übergießen und ihre Körper zu streicheln. Bestimmt haben sie sich von dieser zweifelhaften Lustempfindung noch nicht wieder erholt, dachte Gilgamesch. Er konnte sich gut vorstellen, was für Entsetzensschreie sie ausstießen, als die kleinen Mongolenmädchen sich an sie heranzumachen begannen. Was machst du denn da? Laß die Finger von meiner Hose! Faß mich da nicht an! Bitte — oh, nein — oh, oh-ah-oh! Ohhh!

Der Priesterkönig saß auf einem hohen Thron aus Elfenbein und Onyx und winkte Gilgamesch mit ausladender Geste zu, eben wie ein König zu einem anderen. Gilgamesch nickte fast unmerklich betätigend zurück. Der ganze Pomp und die Zeremonien langweilten ihn gräßlich. Davon hatte er schließlich in seinem früheren Leben reichlich genug abbekommen. Damals hatte er auf dem hohen Thron gesessen, aber dennoch war ihm das einfach alles langweilig gewesen. Und nun…

Doch dies hier war auch nicht langweiliger als sonst etwas. Gilgamesch war schon lange zu der Überzeugung gelangt, daß dies der wahre Fluch sei, der über der Nachwelt lag: Alles Mühen war hier bedeutungslos, bloßes Wetterleuchten ohne reinigende Gewitter. Es war unmöglich, hier etwas Dauerhaftes zu errichten. Bloße Sandburgen waren das hier, und die Auslöschung kam mit den Gezeiten herangerollt, so sehr einer auch dagegen ankämpfen mochte. Man konnte keine Söhne zeugen, die den Namen des Vaters preisen und die Mauern seiner Stadt stärken würden; die Freunde und Bundesgenossen tauchten auf und verschwanden wieder wie spukhafte Traumgestalten; und du selbst lebtest die halbe Zeit in einem fieberigen Traum, ohne zu wissen, was du wirklich willst. Und das nahm kein Ende. Du konntest jetzt wieder sterben, früher oder später, wenn du unachtsam warst oder Pech hattest, aber trotzdem, früher oder später, warst du wieder da für eine neue Drehung des Rades. Es gab kein Aussteigen aus dem Kontinuum. Er, er hatte einst verzweifelt das ewige Leben gesucht, und er hatte schmerzhaft lernen müssen, daß ihm das nicht gegeben war, zumindest nicht in der Welt der sterblichen Menschen. Doch nun war er tatsächlich an einem Ort gelandet, wo er ewig leben würde, jedenfalls sah es so aus, aber dennoch brachte ihm das keine Freude. Seine derzeitige liebste Wunschvorstellung — ein Traum — war es einfach, seine Zeit hier in der Nachwelt abzudienen und danach vielleicht in Frieden ewig schlafen zu dürfen. Doch er sah bisher noch keine Möglichkeit, dies zu erreichen. Das Leben hier — oder was hier so als Leben galt — ging einfach weiter und immer weiter… ziemlich genau so wie dieses Hofkonzert mit den nicht enden wollenden Strängen von dröhnendem, zirpendem und kreischendem Lärm. Jemand mit dem weichen bartlosen Gesicht eines Eunuchen trat zu ihm heran und bot ihm ein Stück gegrilltes Fleisch an. Nun, da der stechende Schmerz in seiner Wunde mehr und mehr verebbte, verspürte er Hunger, und er aß das Fleischstück, und danach ein zweites und noch eins, und dazu trank er einen ganzen Krug fermentierter Stutenmilch.

Eine Tanzgruppe erschien, Männer und Weiber in weiten durchsichtigen Gewändern. Sie vollführten Kunststücke mit Schwertern und lodernden Fackeln. Ein anderer Beschnittener brachte Gilgamesch eine Schale mit geheimnisvollen süßen Köstlichkeiten, und er griff mit beiden Händen zu. Er hatte rasenden Appetit. Sein Körper, der zu heilen begann, verlangte energisch nach Energiezufuhr. An seiner Seite schüttete der Mann Howard die Stutenmilch in sich hinein wie Wasser und wurde zusehends betrunkener, und der andere, der Lovecraft hieß, saß kränklich-trübsinnig da, sah den Gauklern zu und rührte nichts an. Es sah aus, als schüttelte es ihn, wie wenn er mitten in einem Schneesturm wäre.

Gilgamesch winkte ein zweites Gemäß vergorener Stutenmilch heran. Und in diesem Augenblick kam der Arzt an und ließ sich fröhlich auf dem Fellberg neben ihm nieder. Dr. Schweitzer lächelte breit und zustimmend, als Gilgamesch einen kräftigen Schluck trank. »Fühlst du dich jetzt besser? Der Arm, er schmerzt nicht mehr, ja? Die Wunde, sie schließt sich bereits. So rasch heilst du! Was für eine Stärke, was für ein Heilungspotential! Lieber Gilgamesch, du bist ein echtes Gotteswunder! Der Segen des Allmächtigen ruht auf dir.« Er ergriff ein Trinkgefäß von einem vorbeikommenden Diener, trank und verzog das Gesicht. »Ach! Dieses Milchbier, das sie hier als Wein servieren! Und ach, ach, dieses entsetzliche Getöse, ihre verfluchte Musik! Was würde ich nicht dafür geben, einen Schluck anständigen Moselweins auf der Zunge zergehen zu lassen, ja, und wenn ich die D-moll-Tokkata und Fuge noch einmal hören könnte! Von Bach — kennst du ihn?«

»Wen?«

»Bach. Johann Sebastian Bach. Der gewaltigste Musiker, Gottes höchst eigener Klangdichter. Ich habe ihn gesehen, nur einmal, vor Jahren.« Die Augen Albert Schweitzers leuchteten. »Ich war hier neu. Noch keine zwei Wochen hier. Es war im Landhaus von König Friedrich — Friedrich II. von Preußen, weißt du, den sie den Großen nennen. Du kennst ihn? Nein? Der Alte Fritz? Na, macht nichts, macht nichts. Jedenfalls kam ein Mann in den Saal, ganz gewöhnlich, er wäre einem unter anderen nie aufgefallen, verstehst du? Und er fängt an, auf dem Cembalo zu spielen, und er hat noch keine drei Takte gespielt, da sage ich: Das ist Bach, das muß der echte Bach sein. Und ich wäre gern auf die Knie gesunken vor ihm, hätte ich mich nicht so geschämt. Aber er war es. Ich sagte mir: Wieso ist Bach hier in der Nachwelt, wenn die Nachwelt die Hölle ist, wie einige uns glauben machen wollen? Doch dann sagte ich mir, wie du vielleicht dir selber auch und wie jeder das hier früher oder später wird tun müssen: Wie kommt es, daß ich, Albert Schweitzer, hier in der Hölle bin? Und ich begriff, daß Gott ein unendliches Rätsel ist. Vielleicht wurde ich hier hergesandt, um die Verdammten ärztlich zu versorgen. Und Bach vielleicht ebenfalls, um unseren Seelen Linderung zu bringen. Oder vielleicht sind wir ja auch Verdammte. Oder vielleicht ist keiner hier verdammt. Und das ist es, was ich schließlich glaube, daß jene, die diesen Ort hier die Hölle nennen, einfach Narren sind. Wer weiß denn, was dies für ein Ort ist, oder weshalb wir hier sind, heh? Sie führen zu nichts, diese ganzen Spekulationen. Es ist ein Fehler oder peut-être eine Sünde, sich einzubilden, wir könnten verstehen, was Gott denkt! Wir sind hier. Wir haben unsere Aufgaben. Mehr brauchen wir nicht zu wissen.«