Er machte seinen alten Freund, Vy-otin, den Eisjäger, zu seinem Obersten Minister. Herodes erwies sich ebenfalls als nützlicher Berater Er hatte es vorgezogen, bei Gilgamesch in Uruk zu bleiben, als Simon Magus, vollgepackt mit den Edelsteinen, nach Brasil abgereist war. Auch Ninsun, in ihrer liebevollen Klugheit, war ebenfalls eine wertvolle Ratgeberin. Und immer war Enkidu da für ihn, brachte ihm Entspannung und brüderlich nahe Vertrautheit und seine ehrliche, bodenständige, gesunde, von Herzen kommende Weisheit. Und nach einiger Zeit seiner Herrschaft gewann Gilgamesch einen weiteren Berater, einen seltsamen und unerwarteten: es war kein anderer als der aus der vorgeschichtlichen Urzeit kommende Haarmensch, der in Brasil Simons Chefmagier gewesen war.
Er kam unangemeldet, erschien einfach eines Tages zu Fuß vor den Toren Uruks, zu einer Zeit drückender schwarzer Witterung, brüllender vernichtender Stürme und reißender Überschwemmungen. Gilgamesch schuftete an der Stadtmauer, kämpfte unter einem erbarmungslosen stahlgrauen Himmel und stapelte Sandsäcke vor den Wällen aus gebrannten Ziegeln auf, die an einem Halbdutzend verschiedener Punkte unterspült zu werden drohten, als der Mann ankam. An diesem Tag war so ziemlich jeder, der nur ein bißchen etwas schleppen konnte, da draußen am Werk; und der König persönlich gab das beste Beispiel. Dämonische Geschöpfe mit langen gelben Schuppenhälsen und giftiggrünen Flügeln kreischten höhnend in der Höhe über ihnen. Und weiter oben im Himmel zitterten zuckende Elmsfeuer, blutige Streifen, feurige Kometen. Der Regen prasselte unerbittlich herab, ein ganzes Meer fiel in armdicken Strängen auf die Stadt nieder. Der König stand bis zu den Schenkeln im Schlamm, oder doch fast, fing die Sandsäcke auf, die Enkidu ihm von oben her zuwarf, und packte sie mit wilder Hast an den Fuß der Mauer, als eine seltsam vertraute krächzende Stimme aus dem Sturmgetöse zu ihm drang, die in gutturalen, eisverkrusteten, kaum verständlichen Wortbrocken 2u ihm sprach.
»Was?« brüllte Gilgamesch. »Wer ist das denn? Was sagst du?«
»Daß das da vielleicht die Große Flut ist, von der du immer so viel geredet hast, die jetzt wiederkehrt, um dein Land erneut zu ertränken«, sagte der andere nun langsamer und um deutlichere Aussprache bemüht.
Gilgamesch blickte sich um. Im Donnergetöse und den Dämonenblitzen erkannte er den Haarigen Mann, der klein, untersetzt und mit seinem Tiergesicht ganz gemütlich in dem Sturm dastand, als wehte weiter nichts als ein sanfter Frühlingszephyr. Er trug eine Römertoga, weiß mit rotem Ziersaum, und man sah darunter den schweren rötlichen Pelz, der vom Regen dicht und verfilzt an ihm klebte. Die dunklen Augen unter den massigen Stirnbögen leuchteten in einem seltsam urtümlichen Feuer. Hier war ein Geschöpf, das wußte Gilgamesch, das auf der Welt gelebt hatte, als auch die Götter noch jung waren.
»Die Flut, sagst du?« grunzte Gilgamesch.
»Ja, die Flut. Die nach meiner Zeit kam und vor der deinen, jedenfalls hast du mir das so gesagt, König Gilgamesch. Die kam, um diese Welt wieder einmal zu beenden und eine frischere zu beginnen. Aber, komm, laß mich dir helfen.« Und er watete in den driftenden Schlamm, hob einen Sandsack hoch, den Enkidu von der Mauerkrone so weit geworfen hatte, daß Gilgamesch ihn nicht erreichen konnte, und stopfte ihn sorgfältig an den rechten Platz.
Gilgamesch starrte ihn an. »Wer bist denn du?«
»Nun, in Brasil kanntest du mich.«
»Simons Erzweiser?«
»Genau dieser. Frieden und Freude dir, König von Uruk.«
Von weit oben spähte Enkidu mit gerunzelter Stirn zu ihnen herab. Er rief etwas, das der heulende Sturmwind verwehte, und warf einen weiteren Sandsack herunter, der viel zu weit weg aufzutreffen drohte. Der Haarmensch faßte zu und fing ihn und stopfte ihn an die richtige Stelle. Und winkte nach einem weiteren Sack. Gilgamesch besah ihn sich aus dem Augenwinkel. Nun, möglicherweise war es ja derselbe wie früher. Sie sahen einander alle so ähnlich, diese Haar-Männer. Kein Wunder, daß keiner von ihnen einen Namen trug. Wie zottige Gespenster wanderten sie auf ihren eigenen Pfaden durch die Nachwelt, diese rätselhaften Geschöpfe aus der Morgendämmerung der Zeiten, und einer ähnelte so sehr dem anderen, daß sie sehr wohl nur ein und dasselbe Individuum sein mochten. Doch je genauer Gilgamesch nun diesen Behaarten ansah, desto mehr glaubte er, etwas ihm Vertrautes zu entdecken, aber er wußte nicht, was das sein könnte. Es war wohl tatsächlich jener Mann, dem er zuvor in Brasil begegnet war, der Mann, der ihn durch die verteufelten Straßen der Stadt und zu Calandola geführt hatte.
»Und was bringt dich hierher?« fragte er den Mann.
»Simon sandte mich her. Ich bin sein Geschenk, ich soll bei dir an deinem Hof leben und dir dienen.«
»Sagtest du ein Geschenk?«
»Ich soll dir als dein Erzzauberer dienen. Simon war der Ansicht, du würdest mich brauchen.«
Augenblicklich kam so etwas wie ein stechender Argwohn in Gilgamesch auf. Konnte Simon seinen Zauberer vielleicht geschickt haben, um zu spionieren? Nein. Nein, entschied er dann. Das wäre zu plump, zu offenkundig gewesen.
Wieder brüllte Enkidu von oben, und wieder kam ein Sandsack herunter. Diesmal fing Gilgamesch ihn und setzte ihn an Ort und Stelle.
Aber der Haarige sprach weiter: »Ich bin aber auch zu dir gesandt worden als Gegengabe für deine Großzügigkeit. Simon meinte, er sollte dir etwas Gutes tun, als Gegenleistung für die Edelsteine von Uruk, und seine Dankbarkeit für die großen Schätze, die du ihm geschenkt hast, so ausdrücken. Als ich ihn zuletzt sah, badete er in deinen Schätzen: Er lag in seiner Alabasterwanne und ließ sich mit einer Kaskade von Smaragden und Rubinen übergießen.«
»Er liebt simple Vergnügen«, sagte Gilgamesch trocken. Wieder erschallte der Donner, laut und dröhnend wie die Posaune des Jüngsten Gerichts. Es war so ungeheuer laut, daß die Luft Ungeheuer gebar, einen Schwarm von Wesen mit vielen Köpfen und Heuschreckenflügeln und gelben Krötenaugen. Vielleicht hatte der Haarmensch recht, und dies war von neuem die Große Flut, in welchem Falle es klüger wäre, eine neue Arche zu bauen, als Zeit darauf zu verschwenden, diese einstürzende Mauer zu flicken. Doch keiner hatte je eine Sintflut für die Nachwelt vorhergesagt. Und so rief Gilgamesch dem Haarmann zu. »Meinst du das im Ernst? Glaubst du, das ist ein neuer Weltuntergang?«
Der Behaarte stieß einen Laut hervor, der wie ein Lachen klang, und schüttelte den schweren breitnackigen Kopf; dann äußerte er pelzige Laute, die vom Sturm verweht wurden. Gilgamesch hoffte, daß er gesagt hätte, er habe nur einen Scherz machen wollen, daß es sich nicht um die Sintflut handelte, sondern nur wieder um einen neuen üblen Trick der Nachwelt, um einen Sturm, der weiterziehen würde, ohne alles auf seinem Weg zu zerstören.
Dann schufteten sie schweigend weiter, stapelten die Sandsäcke auf. Hunderte andere arbeiteten an diesem Abschnitt der Mauer, Scharen von körperlich kräftigen Männern, aber auch viele Frauen. Der Regen schien nun ein wenig nachzulassen. Aber noch immer krachten diese lauten furchteinflößenden Donnerschläge, regneten die Blitze, brummten die Schwärme der Flugungeheuer. Die Ebene vor der Stadt war jetzt keine Wüste mehr, sondern ein schimmerndes Meer. In weiter Ferne hatte es den Anschein, als driftete ein gewaltiger glitzernder blau-weißer Gletscher im Himmel, dessen schroffe Kanten von einem inneren Licht leuchteten, und auf dessen Flanken Hirsche mit Menschengesichtern tanzten, Männer mit Stierköpfen und andere, seltsame und furchteinflößende ungeschlachte Tierungetüme. Der kleine Mann Picasso, dachte Gilgamesch, sollte das sehen und aufzeichnen. Aber Picasso befand sich im Moment sicher und geschützt unter einem Dach; er hatte erklärt, daß er keine große Lust zu derart stürmischer Plackerei habe und lieber im Haus bleiben wolle. Aber schließlich kann Picasso ja ausreichende Mengen von Monstern aus seinem eigenen brodelnden Hirn produzieren, sagte sich Gilgamesch. Er braucht die da gar nicht zu sehen.