»Wenn du ein echter Zauberer bist«, sagte er zu dem Haarigen Mann, »weißt du dann kein Mittel, um diese elende Pisse abzustellen?«
»Viel mächtigere Zauberer als ich haben uns das gesandt, König. Es gibt keine Zaubersprüche, dem zu gebieten.«
»Und werden wir allesamt ersaufen? Sag, werden wir?«
»Wir werden den neuen Tag erleben, glaube ich«, sagte der Behaarte.
Tatsächlich legte sich der Regen einige Stunden später, was der Behaarte nicht auf sein Zutun zurückführte, aber die Mauern der Stadt blieben verschont. Als sich die Sonne wieder zeigte, inspizierte Gilgamesch mit Enkidu und Vy-otin von der Mauerkrone aus alles und blickte verwundert hinaus auf die überschwemmte Ebene, das Gewirr umgestürzter Bäume, die Trümmer zerstörter Dörfer und die Kadaver der ertrunkenen Tiere, die aus den Marschlanden herangespült worden waren. Aber Uruk selbst war heil geblieben, wenn es auch ein bißchen aufgeweicht aussah. Es würde also diesmal keine zweite Sintflut sein. Und vielleicht handelte es sich nur um einen Krieg der Dämonen hoch droben, dachte Gilgamesch, was diesen teuflischen katastrophalen Regen über die Stadt brachte.
Daß Simon ihm seinen Haarmenschen gesandt hatte, überraschte ihn, und es gefiel ihm. In diesen uralten Geschöpfen, die lebten, bevor es Menschen gab, lag große Weisheit, und ihre Hilfe war etwas höchst Wertvolles. Gewiß zog Simon bei dieser Transaktion den kürzeren, wenn er diesen uralten Zauberer und ehrenwerten Weisen eintauschte gegen nichts als ein paar Säcke voll bunter Steine. Aber als Geste war das wahrhaft königlich, und es bewies, daß Simon mehr war als ein ausschweifender Gierhals. Vielleicht war es dem alten Weinschlauch von einem Tyrannen auch nicht mehr wichtig gewesen, vielleicht sah er schon seinen nächsten Tod vor Augen, und es kümmerte ihn nichts mehr, und er wollte sich nur noch in den schimmernden schönen Steinen suhlen, die er so liebte. Aus welchem Grunde immer — und Gilgamesch bezweifelte, daß hinter dem Ganzen irgend etwas Bösartiges steckte —, er war dankbar, dieses seltsame Geschöpf an seinem Hof zu haben.
Er wies dem Haarmenschen im Palast erlesene Gemächer an, an einem geschlossenen Innenhof, in dem er im Freien schlafen konnte, wenn ihm der Sinn danach stand; Geschöpfe seiner Gattung zogen es vor, nachts keine Dächer über dem Kopf zu haben. Bei den Tagesgeschäften am Hof behielt er ihn in seiner Nähe, sowohl als Zauberer und Beschwörer, wie auch zum Zwecke schlichter Beratung in Fragen der Diplomatie und der Staatskunst, denn er war ein höchst nützlicher Ratgeber.
Das Leben am Hof verlief in unerbittlicher Routine. Tag um Tag trafen neue Gesandtschaften aus anderen Fürstentümern der Nachwelt ein, seitdem sich die Nachricht verbreitete, daß der starke Held Gilgamesch in Uruk erneut an die Macht gekommen war, und man mußte die Emissäre offiziell mit gebührendem Gepränge empfangen. Die Gesandten kamen hereingestolpert, oft wirkten sie abgerissen und entnervt durch die Un- und Zufälle ihrer Reise durch die weite Ödnis der Nachwelt; sie brachten Geschenke und Lobsprüche und sonstiges Brimborium, sein Wohlwollen zu erlangen, vor Gilgamesch. Alle erstrebten sie das eine: Bündnisse mit dem Sumererkönig gegen tatsächliche oder mögliche Feinde, oder aber Gilgameschs Mitwirkung bei irgendwelchen verzwickten und kostspieligen Plänen, ihre eigene Größe auf Kosten ihrer Nachbarn zu steigern.
Die Stapel der Gesandtschaftsstäbe wuchsen wie Sanddünen im Wind. Gilgamesch schüttelte ärgerlich den Kopf angesichts der unordentlichen Haufen, die sich in seinem Thronsaal mehrten. »Die Vollkommene Aryanische Republik — das Neue Ottomanische Sultanat — das Ruhmreiche Proletarische Königreich — das Reich der Freien Geister — das Unbezwingbare Amazonenreich — das Großdionysische Königreich — der Rolling Acres Country Club…« Gilgamesch hob den Blick und fragte Vy-otin: »Ist das etwa auch ein Volk? Der Rolling Acres Country Club?«
»Ein höchst wohlhabendes Land, habe ich mir sagen lassen, mit prächtigem grünen Rasen und schönen Häusern, von einem königlichen Komitee von achtzehn Männern regiert.«
»Einem Komitee von Königen? Reiner Wahnsinn!«
»Sie behaupten, daß es ihnen dabei sehr gut geht.«
»Und dieses Portefeuille da — von der Erhabenen Großfürstin, der Artemis von Neu-Kreta — und hier, von Seiner Transsylvanischen Exzellenz Vlad dem Fünften — und da noch eins, auf kostbarem Velin, Himmel, von — was steht da? Soll das eine Schrift sein? Jigme Phakpa Chenrezi, der Allerbarmende Großlama von…« Gereizt schob Gilgamesch den Haufen beiseite. »Wer sind denn alle diese Könige und Königinnen und Sultane und Lamas überhaupt? Wo ist ihr Land? Kann sich denn ein jeglicher, der fünf Narren findet, die ihm nachhinken, heutzutage bereits als Herrscher aufführen? Ich glaube einfach nicht, daß es diese ganzen Länder wirklich gibt! Laßt mir eine Karte bringen! Zeigt mir, woher diese Gesandten kommen!«
»Du hast doch zweifellos nicht vergessen, König Gilgamesch, daß es mit einigen Schwierigkeiten verbunden ist, wenn man sich auf Landkarten stützt«, bemerkte Herodes. »Sie bieten nur sehr unzuverlässige Informationen, um es gelinde auszudrücken.«
Gilgameschs Gesicht rötete sich. In seinem wilden Eifer hatte er das ganz vergessen.
»Gut, ja, manche vielleicht«, knurrte er. »Aber es muß doch Karten geben, die zuverlässiger sind. Außerdem, eine Karte, auch wenn sie nicht stimmt, ist besser als gar keine. Sucht mir diesen Mercator. Er soll mir eine Karte machen!«
»Wen?«
»Er wurde Mercator genannt. Ich kannte ihn vor hundert etlichen Jahren, oder vor zweihundert, in Persepolis Khaikosru, wo er im Dienst des Schah stand und den ganzen Tag, in irgendwelchen Kneipen herumhing und auf Lederstreifen Karten zeichnete. Aber da war auch noch ein anderer, Herodot, ein Grieche, der quasselte auch von früh morgens bis in die Nacht, ohne aufzuhören, aber wenigstens erzählte er wunderbare Geschichten, und er war in jedes Land gereist, das es gibt. Vielleicht könnt ihr den finden. Und wenn ihr die zwei nicht findet, dann vielleicht jemand anderen. Laßt in Uruk verkünden, daß ich einen Kartographen suche!«
Aber Mercator war nicht auffindbar, ebensowenig Herodot, doch einige Tage später schleppte Herodes ein gewisses wenig vertrauenerweckendes Subjekt an, einen dunklen kleinen Mann mit einem lahmen Bein und ausdruckslosen, aber wilden Augen, einer von den Später Toten, aber dafür recht altmodisch gekleidet, sehr düster. Er sagte, sein Name sei Fernao de Magalhaes, Portugiese, sagte er, für die Spanier sei er unter dem Namen Magellanes bekannt, und, sagte er, er verstehe einiges von Geographie.
»Du bist also ein Kartograph?« fragte Gilgamesch.
Magalhaes warf ihm einen lodernden Blick zu. »Ich habe Karten benutzt, aber ich fertige keine an. Ich bin Seemann, Seefahrer, Kapitän. Ich segelte einst um die ganze Welt, oder doch beinahe.«
»Um diese ganze Welt?« Gilgamesch hob die Augenbrauen.
»Um diese Welt kann man nicht segeln, denn sie hat nirgendwo ein Ende. Ich spreche von der wahren Welt«, sagte Magalhaes. »Über den Leib der Welt, von einem Ende zum anderen, auch wenn Gott mir nicht gestattete, das ganz zu vollenden; allerdings konnten andere meine Reise vollenden, nachdem ich ermordet worden war, doch den Ruhm trug ich davon. Ich hatte die Idee, ich plante die Fahrt, ich führte sie durch, ich leitete alles. Es war meine Leistung.«
Die Augen loderten. Vielleicht ist er ein bißchen aus dem Gleichgewicht, dachte Gilgamesch. Aber es konnte ja wohl jeden durcheinanderbringen, so kurz vor der Erreichung eines so gewaltigen Ziels ausgeschaltet zu werden. Die ganze Welt zu umsegeln! Der Mann besaß echte Stärke, ohne Zweifel. Und außerdem, fast alle Leute, denen er in der Nachwelt begegnete, erschienen Gilgamesch als ›aus dem Gleichgewicht‹. Aber er verstand noch immer nicht so recht, wie man es anstellen sollte, rund um die Welt zu segeln, wenn man die Schwierigkeiten bedachte, auf die man stoßen mußte, wenn man an den Rand der Welt kam; doch wenn dieser Mann hier behauptete, er hätte es geschafft, schön, dann hatte er das höchstwahrscheinlich tatsächlich getan.