Выбрать главу

»Das ist kein Heer«, sagte Gilgamesch. »Das ist bloß ein Haufen harmloser erbarmungswürdiger Versprengter, denke ich.«

»Es sei denn, sie führen ein Trojanisches Pferd mit«, sagte Herodes.

»Ein was? Ist das schon wieder einer von deinen Spätzeit-Witzen?«

»Nein, nicht aus der Zeit der Später Toten, Gilgamesch«, sagte Vy-otin. »Herodes spielt auf eine viel ältere Sache an — diesmal ist es eine von den Geschichten bei — Homer. Als die Griechen einst die Stadt Troja belagerten, merkten sie, daß sie nur durch eine List in die Stadt gelangen konnten, also erbauten sie ein gewaltiges Roß aus Holz, das…«

Gilgamesch bedachte den Einäugigen mit einem merkwürdigen Blick »Moment mal! Du bist doch angeblich — wie lautete das Wort noch? — prähistorisch? Du kommst, wenn ich mich nicht irre, aus dem Pleistozän, ja? Woher weißt du dann so viel über die Griechen und ihren Krieg gegen Troja? Das Ganze war doch lange nach meiner Zeit, ganz zu schweigen von der deinen!«

»Aber hier ist die Welt, in der ich jetzt lebe. Die andere war nur ein Augenblick, vor langer Zeit, und hier ist für immer. Und darum ist dies hier die für mich wirkliche Welt und die andere war wie ein Traum. Ich habe mich auf dem laufenden gehalten. Sollte ich denn nicht Bescheid wissen über die Geschichte der Menschen, mit denen ich Tag für Tag zu tun habe, Gilgamesch? Solltest nicht auch du das?«

»Geh nicht so hart mit ihm um«, murmelte Herodes. »Geschichte kommt und geht bei uns allen wie ein Hirnfieber. Und er steckt gerade in einer Phase der Vergeßlichkeit.«

»Ach so«, sagte Vy-otin. »Ja, dann. Natürlich.«

Ärgerlich bemerkte Gilgamesch: »Geht es bei dem ganzen Gerede darum, daß wir von diesem zerlumpten Haufen von Fremdlingen eine Hinterlist fürchten sollen?«

»Das ist die Meinung von Herodes, nicht meine«, sagte Enkidu. »Nach meinen Informationen geht es den Leuten sehr schlecht, und so ist es kaum wahrscheinlich, daß sie uns größere Schwierigkeiten machen könnten.«

»Abgesehen davon, daß sie in eine Stadt kommen wollen, die sowieso schon mitten in einer Dürre- und Hungerperiode ist«, sagte Herodes. »Müssen wir auch noch die aufnehmen? Fünfhundert weitere durstige Kehlen? Fünfhundert weitere leere Mägen?«

»Wir sind ein zivilisiertes Volk hier«, sagte Gilgamesch kalt. Er nickte Enkidu zu. »Nimm dir hundert Mann von der Grenzpatrouille und finde heraus, wer diese Leute sind und was sie wollen. Und natürlich auch, ob sie irgendwelche hölzernen Rösser mitführen.«

»Sir Walter?« flüsterte Hakluyt. »Bist du vielleicht wach, Sir Walter?«

Raleigh öffnete vorsichtig die Augen. Das war ziemlich schmerzhaft, denn seine Lider waren empfindlich wie bei einem kleinen Kind, voll Blasen von der Sonne und dem Glast, der von der endlosen Weite des Sandes strahlte. Seine Rüstung lag weggeworfen neben ihm, er hatte nur ein Wams und filzbesetzte Beinkleider an. Er hob den Kopf. Auch das kostete Mühe und war schmerzhaft. Diese ganze Expedition, dachte er, war eine einzige Qual und Plage.

»Was ist denn, Richard, du verfluchter Hurensohn von einem Pavian?«

Der kleine Geograph glühte vor Erregung. Er zappelte und hüpfte nervös umher und fuchtelte heftig mit etwas in seiner Hand. »Die Karte, Sir Walter! Sie ist wieder lesbar!«

»Was?« Raleigh setzte sich unvermittelt hellwach und energiegeladen auf. »Dein Wort in Gottes Ohr, Hakluyt, wenn du mich narrst…«

»Aber sieh doch! Hier!« Hakluyt hob das Ding, mit dem er herumgefuchtelt hatte, eine abgenutzte fleckige und nur allzu vertraute Lederrolle, und löste die Verschnürung. Zitternd schob er Raleigh die Karte fast bis auf die Nase. »Ich glaube, es kommt davon, daß wir so nahe an Uruk sind. Die Karte hat aus der Nähe zu der Stadt ihre frühere Kraft wiedergewonnen, vielleicht durch irgendeinen Zauber, den Doktor Dee auf sie legte, ehe wir aufbrachen, und…«

»Dee?« rief Raleigh und spuckte aus. »Seine Lungen sollen zu Wasser werden! Der Bart soll ihm einwärts durch die Lippen wachsen, dem heimtückischen Zaubergaukler! Der mir geschworen hat, daß die Karte vollendet ist und er sie mit solchem Zauber belegt hat, daß wir damit nie in die Irre gehen könnten…«

»Aber sieh doch nur«, sagte Hakluyt.

Raleigh sah mit der Hand über den verkniffenen Augen auf die Karte und versuchte, die Markierungen auszumachen, die sie enthielt. Es überraschte ihn, daß Hakluyt das hinterhältige Ding überhaupt behalten hatte, in all den Monaten — oder waren es Jahre? —, seit es plötzlich verblaßte und vollkommen leer wurde.

Aber wahrhaftig, jetzt schien es wieder mit irgendeiner Art Schriftzeichen bedeckt zu sein. Ein erneuter teuflischer Trug? Oder war es die echte ursprüngliche Karte? Es sah so aus, ja, das echte Original, soweit er sich daran erinnern konnte. Ja, da war alles wieder vorhanden, auf wundersame Weise wiederhergestellt, blaßrote Tusche auf dunkelbraunem Leder, die ganze Route ihres waghalsigen Abenteuers, bei dem sie Jahr um Jahr im Kreis gezogen waren, länger, als er die Jahre mitgezählt hatte, auf der Suche nach etwas, das vielleicht gar nicht existierte. Da, im Norden, war in kühnen Umrissen das Reich ihrer Majestät, und nicht weit davon entfernt das Gebiet ihres Vaters, des harten alten Königs Heinrich, die schreckliche Weite des Outback, das Königreich des Priesters Johannes, das des Mao Tse-tung und die ganzen übrigen Herrschaftsbereiche der närrischen Kleinfürsten der Wüste, und weit drüben am westlichen Rand, in einem gespenstischen roten Glühen, das aus dem Leder aufstieg, die Insel Brasil, von der aus, wie — dieser verräterische Schuft, der Zauberdoktor Dee, behauptet hatte, man den Weg ins Land der Lebenden finden könne.

In seiner Brust wühlte Zorn. Die wiedergeschenkte Karte bereitete ihm keine Freude. Sie bedeutete ihm nur eine erneute Mahnung daran, wie ungeheuerlich und herzzerfressend unberechenbar alles hier in dieser Welt war.

Schlimm genug, daß er schon in seinem alten Leben eine so endlose Serie von herzzerreißenden Widrigkeiten hatte einstecken müssen, die Roanoke-Katastrophe und diesen erniedrigenden Angriff auf Cadiz, wo er so töricht gekämpft hatte, und sein katastrophaler Irrsinn, El Dorado in Guiana zu suchen, was ihn seinen Sohn gekostet hatte und seine Gesundheit und sein Vermögen, und am Ende sogar den Kopf. Man konnte diese Mißgeschicke auf einen Unstern zurückführen, vielleicht, oder auf ein Übermaß an Begeisterung, die zu kühnen unausgereiften Abenteuern verleitete, die mit mehr Erfolg später von weniger wagemutigen Männern durchgeführt werden würden, aber das waren doch wirklich keine Todsünden, wenn einer Pech hatte, wenn einer übereifrig war. Hier dagegen, wo er dazu verdammt war, durch ein Land hin und her zu ziehen, das jegliche Vernunft verhöhnte, wo sich seine Karten über ihn lustig machten, wenn er sie studierte — nein, nein, es war einfach zu viel. Aus Liebe zur Königin war es soweit mit ihm gekommen, war er so weit vorgedrungen und hatte dies alles erduldet, doch allmählich gewann Raleigh den Eindruck, daß er um Elizabeths willen genug gelitten hätte, und eigentlich auch genug für sein eigenes unersättliches Wesen. Wohin hatte es ihn geführt, dieser ganze hochfliegende Ehrgeiz, sein ganzer Wagemut, sein ungebärdiger und unbezähmbarer Wille? In Länder voller Menschenfresser und Ungeheuer, und zu Menschen, denen der Kopf unterhalb der Schultern hervorwuchs, und an Orte, an denen es nur Sand zu trinken und nur blattlose Zweige zu essen gab. Düster sah er zu den drei zusammengebrochenen Jeeps hinüber, die letzten erbärmlichen verrosteten Reste der einhundertundfünfzig Fahrzeuge, mit denen seine Expedition vor — wie ihm schien — einem Jahrhundert — so grandios aufgebrochen war.

Wenn ich aus diesem unfruchtbaren Land jemals wieder lebend herauskommen sollte, schwor er sich, dann will ich mich zur Ruhe setzen und nie wieder in die Ferne ziehen! Beim Rood, ich will nicht mehr wandern, nicht um der Queen zu gefallen, noch um meinetwillen und für keinen andern Menschen! Jesu Cristo, ich will es nicht tun, ich schwöre es!