»Na, also haben wir unsere Karte wieder«, sagte er säuerlich. »Vergebt mir, Hakluyt, doch was bringt uns das Gutes? Können wir die Karte trinken? Können wir sie essen? Wir sitzen in dieser Wüste schon fünfzigmal länger als Moses, und nimmt sie je ein Ende? Du sagtest, hinter dem Outback liegen grüne Felder und ein Meer und dort ist auch ein Weg ins Land der Lebenden…«
»Das war der Doktor Dee, der das sagte, Sir Walter.«
»Nun, du oder der Dee, wer immer, was nutzt uns das jetzt? Jenseits von diesem Outback lag wieder nur eine neue Wüste, und es sieht nicht so aus, als wären wir die los, Karte hin, Karte her! Bei den Wundmalen des Herrn, meinst du, ich hätte noch die Kraft, um weiterzuziehen? Glaubst du das wahrhaftig?«
»Aber wir sind nicht mehr weit von der Stadt Uruk entfernt, und wenn sie uns dort aufnehmen und uns Wasser geben, könnten wir von dort weiterziehen zur Insel Brasil, wo mit gutem Glück…«
Raleigh hob die Hände zum Himmel. »Mit gutem Glück, ja, aber wie’s mein Glück will, mit Hunger und Durst und die ganze Zeit mit wunden Füßen. Und der äußersten Gewißheit auf Kummer und Mühsal. Und was ist das überhaupt für ein Ort, dieses… dieses Uruk?«
»Eine große Stadt der Sumerer, Sir Walter. Berühmt für seinen Reichtum und seine Macht.«
»Und wer sind die, deine Sumerer? Sarazenen, willst du wohl sagen? Muselmanische Heidenschurken?«
»Es ist eine babylonische Rasse«, sagte Hakluyt, »eine sehr alte, und sie schreiben mit kleinen Sticheln auf weiche Tontafeln. Sie erbauten den Turm in Babel in Nimrods Tagen, und das war noch vor Abrahams Zeit.«
»Es sind also keine Sarazenen? Und sie kennen Mohammed nicht?«
»Ich glaube, sie sehen aus wie Sarazenen, Sir Walter, sind es aber nicht.«
»Aber auch keine Christenmenschen. Und sie werden mit Freude sehen, wie unsere Knochen im Sand bleichen, möchte ich meinen.«
»Jene, mit denen wir sprachen, waren freundliche Leute. Bauersleute waren die, harmlos, ohne Arglist. Sie werden binnen einer Stunde mit Hilfe für uns zurückkehren, möchte ich wetten, und dann haben unsere Leiden ein Ende.«
»Und was willst du als Einsatz geben, Richard? Deine Lesegläser? Deine löcherigen Stiefel, aus denen die Zehen hervorschauen? Oder vielleicht eins von deinen geographischen Manuskripten? Ja, und ich setze dagegen meinen zinnernen Trinkbecher oder meine Pfeife, in der kein Toback mehr ist, oder mein…«
»Sir Walter? Sir Walter?« Eine Stimme von ferne.
»Wer ist denn das?« fragte Raleigh und blinzelte gegen die Sonne.
»Helena, glaube ich«, murmelte Hakluyt.
»Ach ja, diese Schlampe! Was hat sie denn jetzt wieder zu keifen, möchte ich wissen?«
»Sir Walter! Sir Walter!«
»Ich kann dich hören, Mädchen«, sagte Raleigh. »Was gibt es?«
Sie kam auf ihn zugerannt, weißgekleidet, mit dunklem Haar, glatter Haut, makellos. Sie wirkte von den Strapazen der Wüstenwanderung so unberührt, als hätte sie die ganze Zeit in Moschus und den Salbölen Arabiens gebadet.
»Mädchen?« Sie kicherte leichthin. »Nennst du mich ein Mädchen? Mich, die ein dreitausendjähriges Leben voller Wollust hinter sich hat? Also, wirklich, Sir Walter!«
»Komm nicht auf schiefe Gedanken. Ich habe weiter nichts damit gemeint.« Raleigh klang gereizt. Sie sah ebenso aufgeregt aus, wie Hakluyt es wegen der Landkarte gewesen war, und sie glühte und gibberte förmlich. Und sah sehr schön aus überdies, auf ihre dunkle türkische Weise. Ihre berühmte Schönheit hatte ihn eigentlich stets kaltgelassen — für seinen Geschmack war sie zu dunkel; man führe ihm eine bleiche, blonde keusche britische Maid zu, nicht eine von diesen schwülhitzigen Muschis aus dem Osten; außerdem hatte diese Frau etwas Unwirkliches, Ungreifbares an sich, war zu vollkommen, wie ein Wachspuppenweib, ohne Leben im Leib — doch jetzt erweckte es den Anschein, als sei der Funke in ihr wieder entzündet worden, und sie strahlte geradezu wie eine Kaiserin. Das Antlitz, das tausend Schiffe aufs Meer trieb, dachte Raleigh, und nicht zum erstenmal, schön, wenn sie es nur jetzt fertigbrächte, ein Schiff segeln zu lassen, das uns an einen leidlich angenehmeren Ort bringt! »Was setzt dich denn so in Flammen, Helena?« fragte er.
»Die Sumerer! Sie sind gekommen, um uns zu retten. Mit einer ganzen Flotte von Landrovern!«
»Was? Die sind hier?« Raleigh rappelte sich auf die Beine, schwankte benommen, sah sich nach seiner Rüstung um. »Wieviel? Wo?«
»Fünfzig oder vielleicht hundert. Alle bis an die Zähne bewaffnet wie Achilles, jeder einzelne Mann. Aber sie wirken nicht feindlich.«
»Habe ich es dir nicht gesagt«, sagte Hakluyt.
Und Helena sagte: »Sie führen uns in ihre Stadt. Und sie geben uns zu essen und zu trinken. Und alles auf den Befehl ihres Königs, der Gilgamesch heißt.«
Raleigh sagte achselzuckend: »Nie von dem Kerl gehört. Ist der auch da?«
»Er hat seinen Stellvertreter gesandt«, sagte Helena. »Ein prachtvoller Riese von einem Mann, mit dem Namen Enkidu, und ganz erstaunlich kräftig und bildschön.«
»Bildschön?«
»Aber ja!« gurrte Helena. »Ja! Ein wahrer Herkules. Achilles war im Vergleich mit ihm ein Wicht. Und Paris, Menelaos, Agamemnon, sogar Hektor — die waren alle im Vergleich zu ihm — nichts! Nichtse! Ach, Sir Walter, wir sind gerettet! Gerettet! Gerettet!« Aber dann sah sie zu Hakluyt, der sie auf seine trockene, unpersönliche Gelehrtenart studierte, aber trotz allem auf eine irgendwie blutlose Art fasziniert, als wäre sie nicht die berühmteste Erz-Verführerin, die es je gab, sondern eine selten kostbare Handschrift oder sonst irgendein derartiger Schatz, auf den Gelehrte so gern und geil abfahren. Und so sprach sie zu ihm: »Es müßte doch etwas in eurem Archiv darüber geben, Doktor Hakluyt, nicht wahr? Über diesen Mann Enkidu? Sag mir, was du über ihn herausfindest! Sag mir alles. Ich will alles wissen, was es über diesen Mann an Unterlagen gibt. Und ich… ich möchte es sogleich wissen!«
19
»Ich habe vernommen«, Gilgamesch lehnte sich bequem auf seinem Thron zurück, »daß euch nichts Geringeres in diese Gegend geführt hat als die Suche nach dem Tor zum Land der Lebendigen.«
Über Raleighs Gesicht huschte ein flüchtiger, aber wirklich nur sehr flüchtiger Hauch von Überraschung. Dann sagte er bemerkenswert ruhig: »Man erzählt sich vielerlei seltsame und erfundene Geschichten über mich, Majestät. Ich wünschte, ich besäße einen Shilling für jede.«
»Es sind also alles Lügen?«
»Nicht alles. Ich habe in der Tat einiges von dem vollbracht, was man mir zuschreibt. Aber nicht sehr viel.«
Gilgamesch lachte. »Das kenne ich. Sobald einen die Dichter und Romanschreiberlinge in die Finger bekommen haben, gibt es kein Ende, was?«
»Und die Neider, Majestät. Vergiß nicht die Neider. Diese kleinen kläglichen Nichtse, deren Leben nur aus Lug und Trug besteht und deren Zungen Tag und Nacht schnattern und die sich Taten für Größere, als sie es sind, aus den Fingern saugen, und sich dabei wünschen, sie brächten selber den Mut zur Größe auf — sie münzen alle Wahrheit in Falschgeld um durch ihre bloße Berührung.«
»So ist es«, bestätigte Gilgamesch.
Der Sumerer schwieg eine Weile und betrachtete in dem rauchigen Kerzenschein des Thronsaals diesen kühnen, selbstsicheren Mann, den Enkidu — sonnenverbrannt und ausgetrocknet und mehr als halb verhungert — aus der Wüstenödnis vor einiger Zeit angeschleppt hatte. Hinter Raleigh stand der zweite englische Mann, Hakluyt, der sanfte Bücherwurm, und dahinter stand das dunkle, schlanke Weib Helena, die Griechin, die von sich behauptete, sie sei die Trojanische Helena. Allem Anschein nach hatte sie nur Augen für Enkidu. Und der nur für sie. Zwischen den beiden knisterte eine heiße erotische Spannung in der Luft wie ein gespenstisches Feuer, und man brauchte kein Magier zu sein, um das zu spüren. Die Augen des Weibes waren zu Schlitzen geschlossen, die Nüstern blähten sich, die Zunge zuckte über die Lippen wie die einer Schlange; und was Enkidu anging, der stand steif da, die Hände zu festen Schalen geformt, als lägen ihre Brüste bereits darin. Gilgamesch zwinkerte ihm zu, doch er schien es nicht zu bemerken. Als Enkidu mit der Nachricht gekommen, war, daß der Anführer dieser zerlumpten Wanderer der Engländer Sir Walter Raleigh sei, und als Gilgamesch ihm sagte, daß Raleigh bekanntlich für seine Königin, die englische Elizabeth, nach einem Weg ins Land der Lebenden suchte, brannte Enkidu vor Neugierde, ob er da schon irgendwie Glück gehabt habe. »Befrage ihn, Bruder, frag ihn und bring ihn dazu, es dir preiszugeben«, sagte Enkidu. Doch von dem Augenblick an, da diese Helena ihre Klauen in ihn geschlagen hatte, schienen interessante Fragen wie der Weg ins Land der Lebenden und alles übrige für Enkidu ganz und gar nicht mehr so dringlich zu sein. In seinen Augen sah man jetzt nichts mehr als nur den Abglanz von Helena, Helena, Helena. Und sie glühte und schimmerte und leuchtete nur noch von Enkidu. Gilgamesch dachte: Vielleicht hat Enkidu diesmal endlich eine Frau gefunden, die seinem Appetit gewachsen ist. Es müßte interessant werden, das zu beobachten.