»Stimmt«, sagte Gilgamesch. »Priester Johannes hatte damals gerade andere Sorgen, eine Bedrohung von anderer Seite, von einem ihn befehdenden Fürsten des Outback, irgendeinem chinesischen König.«
»Ja. Mao Tse-tung«, sagte Raleigh. »Von der Himmlischen Volksrepublik.«
»Genau der, ja.«
»Ein teuflischer Schlaukopf, dieser Mao. Meine Königin hält große Stücke auf ihn. Er schickt ihr Geschenke, Seidenstoffe und Schnitzereien aus Elfenbein, und Rollen mit seinen Gedichten, und zahlreiche Bände seiner Schrift über die Regierungskunst — ich selbst las einst einen Band davon, konnte aber nichts Sinnvolles darin finden, doch das kann an meiner Dummheit gelegen haben…« Raleigh sagte es kopfschüttelnd. »Nun, hat dann Maos Heer das des Priesters Johannes vernichtet?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich verließ den Hof, als die Schlacht bevorstand, und ich habe seither kein Wort mehr darüber gehört. Mein Weg führte mich weit weg von diesem Ort, bis zur Insel Brasil…«
Als dieser Name fiel, atmete Raleigh hastig ein und hielt die Luft an, als hätte man ihn mit einer Nadel gestochen.
»Du weißt von Brasil?« fragte Gilgamesch.
»Ich habe davon gehört«, antwortete Raleigh, merkwürdig unbestimmt und ausweichend. »Ein Ort voll Zauberei und Hexenkunst und allem möglichen anderen in der Art, habe ich gehört.«
»Ja, ziemlich. Und ein seltsamer Anblick für die Augen, wie ich noch keine andere Stadt gesehen habe.«
»Ich hoffe, sie eines Tages zu besuchen«, sagte Raleigh. »Vielleicht nach meinem Aufbruch von hier. Sie hat mich schon lange sehr stark interessiert, diese Insel Brasil.«
»Der Haarmensch, mein Chefmagier, lebte dort viele Jahre lang«, sagte Gilgamesch. »Ebenso mein Erzkanzler hier, Herodes von Judäa. Vielleicht, können sie dir behilflich sein, den Weg zu finden.«
»Dafür wäre ich wahrlich äußerst dankbar«, versicherte Raleigh.
Als die Audienz endete und das wartende Volk sich aus dem Saal zu zerstreuen begann, fühlte Enkidu, wie das Weib Helena seinen Arm packte und ihm scharf die Nägel ihrer Finger ins Fleisch trieb. Leise und heiser keuchte sie ihm zu: »Komm mit mir!«
»Aber der König…«
»Der König kann warten. Komm!«
Er nickte nur. Ihr gegenüber war er willenlos. Seine Kehle war wie ausgedörrt, sein Herz hämmerte ihm wild in der Brust. Weit weg sah er in einer Düsternis Gilgamesch, der noch auf seinem Thron saß, im Gespräch mit Vy-otin und Herodes, und war es nicht vielleicht seine Pflicht, ebenfalls dort zu sein. Doch er war machtlos gegen Helena. Ihr Gesicht glühte in hitziger Lust, und Enkidu sah, wie sich die Spitzen ihrer Brüste unter dem dünnen Stoff ihres Gewandes aufrichteten.
Gilgamesch würde ihm vergeben. Sie zerrte heftig an seinem Arm, und obschon sie ihm nur knapp bis ans Brustbein reichte und nicht mehr zu wiegen schien als ein Federmantel, ließ er sich von ihr abschleppen und in den Strom der Leute ziehen, die den Audienzsaal verließen.
Draußen zog sie ihn hastig in einen dunklen leeren Gang, der mit glattem Mosaikpflaster und einem Spitzbogengewölbe versehen war, und drückte ihn gegen die Wand. Ihre Augen glitzerten wie Edelsteine. Ihr Atem war süß und heiß. Sollte er sie jetzt gleich nehmen, fragte er sich. Gleich hier in diesem Gang, ihr das Kleid heben, die Glätte ihres Unterleibes streicheln, sie unter den Schenkeln packen und sie einfach so über sich stülpen? Er zögerte, obwohl es ihn stark danach drängte. In früheren Tagen hätte er nicht gezaudert, an der Wand, auf den Steinen des Bodens, auf einem Fenstersims, oder wo immer sonst, er hätte sich genommen, was ihm geboten wurde, und ohne Zögern und schnell. Doch man hatte ihn im Lauf der Jahrhunderte zu sehr mit Zivilisiertheit vollgepumpt. Aber war es nicht dennoch dumm und töricht, wenn er nicht auf sie einging? Da war sie, heiß und hitzig bereit.
Und wenn das so war…
Doch nein, er hatte sie mißverstanden, sie schien es darauf angelegt zu haben, mit ihm zu sprechen. Sobald seine Hände sie zu greifen versuchten, verwandelte sich etwas an der Frau: Der Glanz glühte immer verführerisch, aber es war keine Wärme mehr da, als könnte sie die Glut ihres Ofens an- und abstellen, wie es ihr gerade gefiel, und als wäre das nun nicht der Augenblick der Glut. Das Weib verwirrte ihn. Er kam sich klobig-unbeholfen vor, unmöglich und plump und verwirrt, als hätte die Frau ihn in Schlaftrunkenheit versetzt.
»Bist du des Königs Bruder?« fragte sie.
»Nein, nur sein Freund.«
»Und doch nennt ihr einander Bruder.«
»Das ist, weil unsere Freundschaft so eng ist.«
»Ach so«, sagte sie.
Das Funkeln in ihren Augen trieb ihn zum Wahnsinn. Die Aufforderung in ihnen war unmißverständlich, aber zugleich las er etwas darin, das ihn auf Distanz halten wollte, jedenfalls noch ein Weilchen. Seine Finger bewegten sich zitternd um ihre Gestalt, doch noch immer wagte er es nicht, sie zu berühren. Und es wäre so leicht gewesen, sie zu packen und zu nehmen. Nein, begriff er, es war gar nicht leicht: Sie zwang ihn mit einem Blick, mit einem Lächeln, Abstand zu wahren. Sie zwang ihn zu warten. Das war neu für ihn, dieses Wartenmüssen, dieses Hinausschieben, bis zum richtigen Augenblick. Aber er hatte auch noch nie zuvor ein Weib wie sie getroffen.
Es muß Zauberei dabei sein, dachte Enkidu. Wie sonst konnte sie eine solche Macht über ihn haben? Sie mußte ihn verhext haben.
Sie sagte: »Ich war einst die Gemahlin eines Königs, dessen Bruder ein noch mächtigerer König war, und daraus erwuchs ein unendlicher Ärger. Aber das ist schon recht lange her. Weißt du, wer ich bin?«
»Dein Name ist Helena.«
»Ja. Die Helena von Troja.«
»Ich bitte um Vergebung. Vielleicht müßte ich deinen Namen kennen, aber ich muß gestehen…«
»Ah, du bist einer von den Frühen Toten?«
»Selbstverständlich.«
»Aus Ägypten? Assyrien?«
»Aus Sumer-dem-Land, Herrin. Zwischen den Strömen Idigna und Buranunun gelegen.«
»Sprichst du die griechische Sprache?«
»Ich konnte es einst, glaube ich. Aber es ist lange her seitdem.«
»Macht nichts«, sagte sie. »Du mußt schon sehr alt sein. Du weißt vom Trojanischen Krieg, ja?«
Enkidu überlegte kurz. »Alles weht so durcheinander.
Aber ja, richtig, der Krieg Homers, meinst du den damals? Achilles, Agamemnon…«
»Ich war die Frau von Agamemnons Bruder, Menelaos. Und der Anlaß zum Krieg war ich. Jedenfalls behaupten das die Leute oft genug, aber andere sagen, es ging dabei um Handelsinteressen und Handelswege. Aber ich weiß, daß es natürlich meinetwegen war, weil ich meinen Mann, den König, sitzen gelassen hatte, um im Land der Trojaner zu leben, wohin mich Paris, der damals mein Geliebter war, entführt hatte, und Menelaos wollte diese Schmach nicht auf sich sitzen lassen, und sein Bruder, Agamemnon, ebenfalls nicht.«
»Ach wirklich? Hm«, sagte Enkidu.
O ja, das konnte er schon verstehen, daß einer wegen der Frau da einen Krieg anzettelte. Diese Augen, diese Haut, das Haar, schwarz wie eine mondlose Nacht, ihr Glühen, das er so dicht an seinem Leib fühlte — aber ja, die Frau konnte einen Mann zum Wahnsinn treiben! Zum Wahnsinn! Da stand sie, dicht vor ihm, fast in seinen Armen. In seinem Griff, wenn er es wollte. Und eben doch nicht. Er glaubte noch immer zu spüren, daß das gleiche Verlangen sie erfüllte wie ihn, doch schien sie irgendwie dieses Verlangen in Schach halten zu können und ihn ebenfalls.
Er dachte an all die Weiber, die er in all den Jahren in dieser und in der anderen Welt gekannt hatte, und versuchte sich zu erinnern, ob eine darunter so duftiges Haar gehabt hatte wie Helena, so weiße verführerische Glieder — doch er merkte, daß er, sich an keine von diesen Frauen besonders erinnern konnte; sie waren nur noch ein verwehter Rauch und ein dunkler verschwommener Fleck in seiner Erinnerung. Und diese Frau da, so nahe und doch so weit aus seiner zufassenden Sehnsucht gerückt, war hell und leuchtend und heiß brennend wie ein feuriger Diamant, klar und glitzernd und vollkommen.