»Ich auch nicht«, sagte Gilgamesch. »Doch will ich wenigstens versuchen, in Erfahrung zu bringen, was Raleigh möglicherweise weiß. Allerdings wird es nicht gerade leicht werden, etwas aus ihm herauszuholen.«
»Ist das wirklich die Helena aus Troja, mit der er herumzieht, was meinst du?« fragte Vy-otin.
»Sie behauptet es. Ich bin geneigt, ihr zu glauben.«
»Sie ist unerträglich schön«, sagte Herodes. »Sie sieht einfach nicht echt aus.«
Vy-otin lachte. »Enkidu hält sie für echt genug.«
»Er ist von ihr besessen, ja«, sagte Gilgamesch. »Ich habe es in Tausenden von Jahren nicht erlebt, daß er sich wegen eines Weibes so aufführt. Doch es wird ihm guttun. Er ist immer so voll Unruhe, wenn er ohne eine Frau ist, und wenn Enkidu unruhig ist, führt das oft zu Schwierigkeiten. Vielleicht kann diese Helena ihn für ein Weilchen besänftigen.«
»Eher das genaue Gegenteil, möchte ich vermuten«, bemerkte Herodes trocken. »Doch du kennst ihn ja besser.«
Am anderen Ende des Saales öffnete sich eine Tür. »Da kommt Magalhaes«, sagte Vy-otin.
Der Seefahrer trat hinkend vor den Thron. »Du hast nach mir verlangt, Majestät?«
»Ja. So ist es. Du kennst doch sämtliche Abenteurer und Seefahrer, Magalhaes. Was kannst du mir über diesen Walter Raleigh berichten, der nun unter uns weilt? Hattest du in der anderen Welt je mit ihm zu tun?«
»Nach meiner Zeit kam der. Fünfzig Jahre oder mehr.«
Gilgamesch lachte. »Fünfzig Jahre? Was ist das schon?«
»In der anderen Welt, Majestät, bedeutet es alles. Ich war längst dahin, ehe er geboren wurde. Doch ich habe hier von ihm gehört. Draco hat mir Geschichten über ihn erzählt.«
»Draco?«
»Francisco Draco, der Seeräuber. Ebenfalls ein Engländer, ein guter Bekannter von Raleigh in der anderen Welt.«
»Er meint Sir Francis Drake«, erklärte Vy-otin.
Gilgamesch nickte. »Danke. Was bist du doch für ein Experte für die Einzelheiten dieser Spät-Totenwelt, alter Freund.« Und zu Magalhaes: »Schön also. Und was hat dein Drake, dein Draco, dir über Raleigh erzählt?«
»Ein Genie, sagte er. Aber unstet und unzuverlässig, wie eben die meisten Genies. Stets voller wunderbarer Vorhaben, die er nie ganz zur Vollendung bringen konnte.«
»Wie etwa einen Weg ins Land der Lebenden zu suchen?«
»Ja, das würde durchaus zur Art dieses Raleigh passen.«
Gilgamesch beugte sich zu dem kleinen Portugiesen nieder und fragte leise: »Und was weißt du von diesem Plan? Glaubst du, es gibt einen solchen Durchgang, ein solches Tor?«
»Es ist nur ein Märchen«, sagte Magalhaes sofort. »Das Land der Lebenden kann niemand erreichen. Ich bin davon überzeugt, und Draco ist davon überzeugt, und Cook ebenfalls, der auch ein bedeutender Seefahrer ist. Und das sind Männer, die ich kenne und denen ich vertraue, Draco und Cook, sie haben beide die Welt umsegelt, genau wie ich, und wer einmal eine solche Reise getan hat, der kann nie wieder sein wie gewöhnliche Menschen. Was er sieht, das sieht er mit wachen Augen und in Wahrheit.«
»Möglich.«
»Draco hat danach gesucht, so sagte er mir. Und Cook auch. Sie sind zu den fernsten Winkeln der Nachwelt gefahren, sogar hinein in die Große Unendliche See. Würden sie denn noch hier sein, wenn sie das Tor zum Land der Lebenden gefunden hätten? Aber ich habe Draco erst letzten Monat getroffen und Cook vor knapp fünf Jahren, und sie sagten nichts zu mir über Tore oder andere Welten, obwohl sie mir bestimmt etwas darüber gesagt hätten. Wenn sie es nicht gefunden haben, dann deshalb, weil es nicht existiert. Du kannst dich auf mein Wort verlassen.«
»In diesem Fall…« Doch Gilgamesch wurde von einem Lärm im Gang vor dem Thronsaal gestört; ein Stampfen, lautes mißtönendes Singen, herzhaftes Gelächter, schallendes Händeklatschen — die gewöhnlichen Signale, die Enkidus Nahen verkündeten —, und dann kam Enkidu selbst voll Übermut hereingetollt, ganz erhitzt und schweißtriefend, das lange feuchte Haar hing in zerzausten Zotteln herab, das Kleid war zerknittert. Der Geruch von Helenas Parfüm wehte mit ihm herein.
»Gilgamesch!« brüllte er. »Ich hab’ es! Das große Geheimnis — ich habe es herausgefunden!«
»Ach du liebe Zeit, ich hätte es ihm sagen können«, murmelte Herodes, »dabei habe ich noch kein Wort mit dem Weib gewechselt. Es ist ganz einfach: auf jeder Seite eine Brustkugel, so ist sie gebaut, und weiter unten ein Pölsterchen von dunklen Haaren, wo sich die Beine treffen, und sie stößt kleine sanfte Laute aus, wenn man sie da berührt…«
Gilgamesch gebot ihm mit einem scharfen Zischen, er solle schweigen.
»Was für ein Geheimnis ist es denn, Bruder?« rief er, während Enkidu schwankend wie ein Matrose auf Deck herankam.
»Der Weg ins Land der Lebenden! Ich weiß, wie man ihn finden kann!«
Gilgamesch blickte stirnrunzelnd zu Magalhaes, der nur die Achseln zuckte.
»Dieser Seefahrer hier hat uns gerade erklärt, daß es in der ganzen Nachwelt kein derartiges Tor gibt.«
»Dieser Seefahrer irrt sich. Ich habe es aus vertrauenswürdiger Quelle, und wenn ein Mann das bestreitet, so will ich ihn dafür zur Rechenschaft ziehen, daß er mich einen Lügner heißt.«
Magalhaes blickte unbeeindruckt zu Enkidu empor, der fast doppelt so groß wie er über ihm aufragte. »Ich erklärte nur, daß ich glaube, dieses Tor gehört in das Reich der Fabeln, bevor du hier hereingekommen bist. Wer dennoch an seine Existenz glauben möchte, kann dies gern weiterhin tun, es wird mich nicht stören, auch werde ich sie nicht der Lüge bezichtigen. Es gibt Menschen, die behaupten, daß die Welt flach ist, und die sind ebenfalls keine Lügner. Sie sagen nur die Wahrheit, an die sie glauben. Man braucht nicht zu lügen, um etwas zu sagen, was nicht wahr ist.«
»Wer ist dieser kleine Kerl?« brüllte Enkidu und hob beide geballten Fäuste. »Wieso ist er hier, und wieso erlaubst du ihm, mich zu verspotten? Bei Enlil, ich werde…«
»Frieden, ihr beiden«, gebot Gilgamesch und gab Vy-otin ein Zeichen, zwischen die beiden zu treten. Er wartete ein wenig, bis Enkidu sich etwas beruhigt hatte, dann sprach er: »Also, Bruder, berichte uns, was du erfahren hast.«
Enkidu schaute sich mürrisch um. »Vor diesen…«
»Vor Herodes, Vy-otin, ja. Weshalb nicht?«
»Und dem da?« Er wies auf Magalhaes.
»Er ist ein großer Seefahrer, ein Mann mit großem Wissen von den Straßen dieser Welt und der anderen. Er steht jetzt in unseren Diensten. Wir vertrauen ihm. Du kannst vor ihm sprechen, Enkidu.«
»Also…« Enkidu schüttelte den Kopf. »Es war die Frau, Helena, die mir das gesagt hat, sie, die mit Raleigh herkam.«
Herodes kicherte.
»Werden sie mich heute alle verspotten?« rief Enkidu.
»Sei still, Herodes! Weiter, was hat Helena dir gesagt über…«
»Sie und Raleigh zogen, wie wir wissen, durch das Outback im Auftrag von Raleighs Königin, die Elizabeth heißt und die den Weg ins Land der Lebenden sucht. Raleigh hat eine Landkarte, oder vielmehr der kleine Kerl Hakluyt hat eine, der ihm als Führer dient, und Helena hat sie gesehen. Da steht ganz deutlich, wo die Öffnung in die andere Welt sich befindet.«
»Und wo ist dieser Ort?« fragte Gilgamesch.
Erneut zögerte Enkidu und schaute Magalhaes düster an.
»Raus damit, Enkidu! Wo ist es?«
»Auf Brasil«, sagte Enkidu.
»Brasil?«
»Ja, die Insel Brasil. Simons Stadt, in der dir die Erkenntnis zuteil wurde, die dich hierher geführt hat, Bruder.«
Gilgamesch war verblüfft. »Ja, ich fand wirklich, daß Raleigh erstaunt aussah, als ich erwähnte, daß ich früher einmal in Brasil gewesen bin. Ich erwähnte den Namen kaum, da wurde er kurzatmig und riß die Augen weit auf. Aber nein, Enkidu, nein, wie könnte so etwas sein? Ich war doch dort. Ich hätte doch gewiß etwas davon gehört.«