»Hast du danach gefragt?«
»Wieso hätte ich so etwas fragen sollen? Solange ich in Brasil weilte, kam mir kaum je ein Gedanke an ein Land der Lebenden.«
»Siehst du? Siehst du?«
Gilgamesch sah Herodes an. »Du hast viele Jahre in Brasil gelebt. Was kannst du dazu sagen? Gibt es dort diesen Weg, oder nicht?«
»Also, ja, es gab da so Geschichten«, sagte Herodes ausweichend. »Daß die Tunnelgänge unter der Stadt dorthin führten, vielleicht, und allerlei ähnliche Märchen. Ich habe nie besonders darauf geachtet. Ich habe nie auch nur ein Zehntel von den phantastisch klingenden Sachen geglaubt, die man sich in dieser Stadt herumerzählte. Vielleicht nicht einmal den hundertsten Teil.«
Gilgameschs Blick verlor sich in der Ferne. Bei den Worten Herodes’ erwachte wieder das Bild der dunklen Schächte im Bauch der Insel Brasil, in denen Calandola und seine Menschenfresserhorde lauerten. Ja doch, auch er hatte es vernommen, mehr als nur einmal, daß sich irgendwo in diesen Tunnelgängen der Weg ins Land der Lebenden finden lasse. Nun fiel es ihm wieder ein. Doch es gab uralte Gänge unter vielen der Städte der Nachwelt, unter Nova Roma, unter Elektrograd, unter Nibelheim, vielleicht gar unter Uruk, wer konnte das schon wissen. Und in diesen Städten hörte man oft hinter vorgehaltener Hand flüstern, daß man durch einen der unterirdischen Gänge aus der Nachwelt entrinnen könne. Aber geflüsterte Gerüchte bedeuten schließlich nicht, daß sie wahr sind. Niemand wußte mehr, wer diese Gänge gegraben hatte und aus welchem Grund. Es waren nichts weiter als dumpfe Höhlungen, staubig, unheimlich, widerlich, vor langer Zeit bereits verlassen. Gilgamesch sah keinen Grund, ihnen eine besondere magische Bedeutung zuzuschreiben. Es hat immer schon Leute gegeben, die das Licht das Tages scheuten, dachte er, und sich lieber in den Eingeweiden der Erde vergruben. Aber weshalb sollte er dann glauben, daß diese Irrgänge, die von vergessenen Mineuren vor langer Zeit in der Nachwelt gegraben wurden, irgendwohin führen sollten als nutzlos im Kreise?
Er sagte, nach geraumer Zeit: »Wo ist mein Haariger Mann? Wir wollen ihn dazu befragen.«
»Er wartet in der Vorhalle«, berichtete Herodes.
Enkidu sagte: »Wäre es nicht großartig, das Land der Lebenden zu sehen, Bruder? Du und ich — und Helena?«
»Aha, und Helena, ja?«
»Ja, sie würde mit uns kommen. Sie wird uns führen auf dem Weg, und alle Hindernisse werden vor ihr zunichte werden.« Enkidus Augen leuchteten. »Ach, Gilgamesch, mein Bruder, du hast nie ein Weib wie sie gesehen! Sie ist ein Wunder! Eine Göttin!«
»Ich habe Göttinnen in meinen Armen gehalten, Bruder«, erklärte Gilgamesch trocken; er erinnerte sich an sein erstes Leben, als er König gewesen war im echten, wirklichen Uruk und jedes Jahr mit der göttlichen Inanna pflichtgemäß die rituelle Heilige Hochzeit zu vollziehen hatte. Es war eine recht heftige Sache gewesen, das mit der Inanna, deren mißgünstiger Eifer und Machtgier ihn beinahe vorzeitig das Leben gekostet hatten. »Sie sind nicht immer sehr angenehme Bettgefährtinnen, wenn ich dir das warnend in Erinnerung rufen darf. Aber sieh, schau, da kommt mein Haariger Mann.«
»Du hast mich herbefohlen, hier bin ich, König Gilgamesch«, sagte das uralte Geschöpf.
»Wir reden gerade über den Pfad ins Land der Lebenden«, sagte Gilgamesch.
»Ach.« Die Bernsteinaugen des Behaarten glommen wie Laternen in dem unergründlichen fellbedeckten Gesicht.
Gilgamesch sprach weiter: »Gerade erreichte uns eine Information, daß der Zugang zu diesem Land bekannt ist und daß er sich auf der Insel Brasil befindet.«
»Warum sagst du das zu mir?« fragte der Behaarte ruhig mit seiner pelzigen schwerfälligen Stimme, die Gilgamesch zwang, sich vornüber zu neigen, um jedes Wort zu verstehen.
»Weil alles, was es in Brasil gibt, droben in der Stadt und in den Erdgängen darunter, dir bekannt ist, glaube ich. Also solltest du in der Lage sein, uns zu sagen, ob das so ist, daß es in dieser Stadt das Tor zum Land der Lebenden gibt.«
Der Haarmensch schwieg geraume Zeit.
»Nein«, sagte er dann. »Nein, einen solchen Durchgang kann man da nicht finden. Nicht in der Stadt. Nicht in den Gängen darunter.«
Enkidu stieß ein wütendes Zischen der Enttäuschung aus.
»Und du bist dir da ganz sicher?« fragte Gilgamesch.
»Dieser dein Palast hier, König Gilgamesch, ist ein Haus aus Steinen, und um ihn zu betreten, mußt du durch ein Tor gehen. Diese Stadt Uruk ist umgürtet von einer Wallmauer aus Ziegelsteinen, und um nach Uruk zu gelangen, mußt du ebenfalls durch ein Tor gehen. Doch das Land der Lebenden betritt man nicht, wie man in deinen Palast gelangt, oder in die Stadt Uruk, also nicht durch eine Öffnung, durch die du hindurchgehen kannst, von dem einen Ort an einen anderen, von außen nach innen, von einer Seite zur anderen. Du kannst über die ganze Weite der Nachwelt wandern, aufwärts und hinab, aber du wirst kein solches Tor finden.«
Wieder zischte Enkidu zwischen den Zähnen, lauter als zuvor, dann wandte er sich weg, verkrampfte seine mächtigen Fäuste und schlug sie wieder und wieder gegeneinander.
Gilgamesch sprach: »Dann ist es also nur ein dummes Ammenmärchen, daß wir von dieser Welt aus ins Land der Lebenden gelangen können? Ein Traum, eine Erfindung, leere Phantasie?«
Wieder schwieg der Haarmensch lange, und dann sprach er so undeutlich, daß Gilgamesch nur die eine oder andere abgerissene Silbe verstand, der Rest der Rede ging im Bart des Behaarten verloren.
»Was sagtest du da?« bat Gilgamesch. »Sag es mir noch einmal, sei so gut.«
»Ich sagte, o König, daß man das Land der Lebenden wirklich erreichen kann. Doch der Weg dahin ist kein Pfad, wie du ihn verstehst, und man gelangt auf ihn nicht durch ein Tor. Der Pfad ist nirgendwo und überall, in Brasil und nicht in Brasil, in Uruk und nicht in Uruk, in der Wüste und nicht in der Wüste.«
Stirnrunzelnd sagte Gilgamesch: »Solche Worte sind für mich ohne Sinn. Ein Ding ist entweder da oder es ist nicht da. Man kann an einen Ort gelangen — oder nicht. Und du sagst, nein. Du sagst, es gibt einen Weg dorthin, tatsächlich, aber man muß einen Weg einschlagen, der kein Weg ist, und der Weg ist da und auch wieder nicht da, und…« Gilgamesch schüttelte den Kopf. »Ich verstehe dich ganz und gar nicht.«
Der Behaarte Mann sagte: »Diese Dinge sind auch nicht leicht zu verstehen. Und es ist nicht leicht, den Weg zu finden. Ohne die Hilfe eines Wegkundigen findest du ihn nie.«
»Und wo finde ich einen, der den Weg kennt?«
»Du hast ihn bereits gefunden, o König. Ich kann dir den Weg weisen, den du suchst.«
»Du? Wie kannst du das?«
»Wenn du aufrichtig dieses Land zu besuchen begehrst, kann ich dich hinsenden. Du glaubst mir nicht? Es gibt eine Möglichkeit, den Weg aufzutun, und ich kenne sie.«
Enkidu stieß ein Keuchen aus und wandte sich plötzlich wieder um. Er schien auf einmal doppelt so groß wie sonst. Seine Augen loderten wild.
»Da, hörst du es?« fuhr er Magalhaes wütend an. »Hörst du es?« Und zu Gilgamesch sagte er mit bebender Stimme: »Bruder, bewege ihn dazu, uns das Geheimnis sogleich zu sagen! Wir müssen dort hingehen, du und ich! Wir müssen den Weg finden und ihn bis zu seinem Ende gehen! Oder willst du lieber noch einmal zehntausend Jahre in Uruk herumsitzen und feist werden? Was, Bruder? Heh?«
Gilgamesch starrte den Behaarten Mann verwirrt an. »Du hast mir nie ein Wort über dies gesagt. Wie kommt es, daß du nie davon gesprochen hast?«
Über das tierhafte Gesicht huschte beinahe so etwas wie ein Lächeln.
»Ach, König Gilgamesch! Du hast mich nie gefragt!«
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