Es war eine lange finstere Nacht, unterbrochen von hastigen, kümmerlichen Sonnenaufgängen und dem Tanz unvertrauter gelber Monde am Himmel. Gilgamesch strich durch die Straßen von Uruk. Es wehte ein beißender, ätzender Wind. Zeitweilig trug er Schauer von etwas Schneeähnlichem heran, das die Dächer mit kurzlebigen weißen Flecken bestäubte; als er eine Handvoll davon aufhob, brannte es auf der Haut wie feine Asche aus dem Schlund eines Vulkans oder wie weicher gemahlener Bimsstein.
Zerbrechliche, aber scheußliche Nachtgeschöpfe, so durchsichtig wie Träume, schwirrten in Schwärmen um ihn und fletschten lange blitzende Zähne, von denen fahles Gift troff. Er scheuchte sie fort, als wären sie Mücken. Ein kurzstämmiger stoppeliger Baum mit Blättern wie lange fettverschmierte Federn schien ihn auszulachen. Mitten in der Luft taten sich Toreingänge vor ihm auf, doch hinter ihnen war nichts. Die gepflasterten Straßen wogten wie die Oberfläche einer stürmischen See.
Während er durch die dunkle Stadt schweifte, beherrschte ihn ein Gedanke, ein einziger.
Du wirst erneut von Enkidu getrennt werden, oder aber du mußt den Thron in Uruk aufgeben. Und wenn du ihn aufgibst, wirst du ihn niemals wiedergewinnen. Und wenn du Enkidu auch diesmal verlierst, wirst du ihn niemals wieder finden können.
Er erinnerte sich an eine Zeit, damals im alten Leben, da Enkidu kränklich geworden war und düster und bedrückt den ganzen Tag lang dasaß, und Gilgamesch ging hin und trat zu ihm und sagte, daß er wüßte, was ihn bedrückte, und dieses sei, daß er unruhig und des verweichlichten bequemen Stadtlebens überdrüssig und es leid sei, müßig in Uruk herumzuhängen, daß er sich nach Abenteuern sehnte, nach Gefahren und gewaltigen Taten, die seinen Namen leuchten lassen würden vor allen Menschen.
»Ja, genau das ist es, Bruder«, sagte Enkidu.
Und Gilgamesch gestand, daß es auch ihm so gehe, daß auch in ihm etwas nicht zur Ruhe komme, das ihn zu immer weiterem Suchen und Fragen antrieb, ein nie zu stillendes Sehnen. Die Götter hatten sich einen Jux mit ihm erlaubt, sagte Gilgamesch, daß sie ihn so schufen, daß er sich unablässig nach einem geruhsamen friedlichen Leben sehnen müsse, aber sobald er es gefunden hatte, niemals davon befriedigt sein durfte.
Da lachte Enkidu und sprach: »Wir sind wie zwei große Jungen, die ständig auf der Suche nach neuem Spaß sind.«
Das war die Zeit, als sie gemeinsam ins Land der Zedern zogen, um das kostbare Holz heimzuführen, daß dort im Wald wuchs, und wo sie dem Dämon Huwawa begegneten, den sie in seiner Feuerhöhle erschlugen, und von wo sie im Triumph nach Uruk heimkehrten, so lustig und froh, als hätten sie sechs Königreiche erobert.
Doch das alles war ja im anderen Leben gewesen, dem alten, vor langer, langer Zeit, vor dem ersten der vielen Tode, die zu sterben ihnen bestimmt war. Und jetzt war Enkidu wieder ruhelos und lechzte nach neuen Abenteuern, und da war er selbst, Gilgamesch, und war König in Uruk und saß in seinen Regierungsgeschäften fest. Was hatte Enkidu gesagt, als er ihn drängte, sich mit ihm auf dieses Abenteuer einzulassen? Oder willst du lieber wieder einmal zehntausend Jahre in Uruk hocken und feist werden? Aber diesmal war sich Gilgamesch seines Weges nicht sicher. Eine Seite in ihm sehnte sich danach, mit Enkidu auf die Suche nach dem Land der Lebenden zu gehen — jener Teil von ihm, der ewig unruhig, unablässig strebend blieb und der noch immer nicht gänzlich in ihm abgestorben war — aber da war auch noch eine andere Seite in ihm, die während seines Aufenthaltes in der Nachwelt herangewachsen war und die zu ihm sagte: Bleib du, bleib! Und herrsche über deine Stadt, erfülle deine Aufgaben, die zu tun dir einzig bestimmt sind. Und diese Stimme tönte in ihm so stark wie die andere, oder doch beinahe so stark.
Aber dennoch…
Ausharren? Wozu, fragte er sich. Um wieder und noch einmal all das durchzuspielen, was früher schon geschehen war, in dieser Welt und jener, die ihr vorherging? Bestand seine Existenz denn nur daraus, daß er in unendlichem Kreislauf Macht ausüben und dann auf sie verzichten sollte, herrschen sollte und dann wieder umherwandern, immer und immer wieder? Gab es denn für nichts ein Ende? Hatte nichts einen wirklichen Zweck? Wann würde er sich je einmal einfach nur ausruhen dürfen?
Er hörte das heftige Knattern mächtiger Flügel über sich, doch da war nichts. Er sah den mächtigen Hügel hinter der nördlichen Stadtmauer sich regen und langsam zu erheben wie den Höckerrücken eines erwachenden Drachen. Die Luft wurde blutigrot und sehr schwer, und aus ihr tönte ein aufdringliches massives Summen wie von Abermillionen Fliegen. Eine Stimme, die zu ihm ohne Laut sprach, sagte: »Hier ist dein Königreich, Gilgamesch von Uruk. Wie tief ist deine Liebe dafür?«
Und aus der sirrenden Luft kam das Echo: »Liebst du es? Liebst du? Liebst du?«
Ninsun sagte. »Also wirst du gehen.«
»Ich muß, Mutter! Er läßt mir keine andere Wahl.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich halte es für einen großen Fehler, diese Reise.«
»Und ich auch«, dröhnte Vy-otin mit lauter Stimme vom anderen Ende des Saales herüber. »Wie kannst du behaupten, daß du keine andere Wahl hast? Seid ihr zwei etwa wie Zwillingliche, die am Leib durch ein fleischliches Band verknüpft sind, daß du ihm überall hin folgen mußt, wohin er geht?«
Gilgamesch betrachtete den Eisjäger-Häuptling lange mit stumpfem Ausdruck im Gesicht.
»So ist es, Vy-otin. Genau das sind wir, Zwillinge.«
»Dann sag ihm doch, du willst nicht mitgehen. Er wird die Sache aufgeben müssen.«
»Er würde dennoch gehen«, sagte Gilgamesch.
»Ha«, sagte Herodes. »Dann bist also du der an ihn vernabelte Zwilling, und er ist es nicht? Wie merkwürdig.«
»Nein«, sagte Gilgamesch. »Ins Land der Lebenden zu gelangen, das ersehnt er sich mehr als irgend etwas anderes. Und ein solches Verlangen zerbricht alle Bindungen. Er starb seinen ersten Tod, als er hinabstieg in das Haus des Staubes und der Finsternis, um mir die Trommel wiederzubringen, die ich verloren hatte, die Trommel, die der Kunstmeister Ur-nangar aus dem Holz des Huluppu-Baums gefertigt hatte — erinnerst du dich, Mutter? Es war die Trommel, die ich schlug, um meine Seele frei durch fremde Götter- und Dämonenreiche schweifen zu lassen, und als ich das Instrument verlor, gab Enkidu sein Leben, damit ich es zurückbekäme. Und seit jenem Tag, glaube ich, hat er unablässig danach getrachtet, das wiederzugewinnen, was er damals verlor. Und nun ist er sicher, daß die Zaubermacht des Haarigen Mannes ihm helfen wird, das zu finden.«
»Dann soll er gehen und es suchen«, sagte Vy-otin. »Aber wieso mußt du?«
»Weil ich muß«, erwiderte Gilgamesch.
Herodes lachte. »Es geht doch nichts über ein Argumentieren im Kreis, was?«
Gilgamesch fuhr den kleinen Hebräer mit einem derartigen Zorn an, daß dieser erschrocken fünf Schritte zurückhüpfte. »Du begreifst nichts davon! Gar nichts!«
»Vergib mir, Gilgamesch«, bat Herodes zerknirscht. »Aber könntest du es Enkidu nicht einfach verbieten, das zu tun, wenn dir das solch großen Gram bereitet?«
»Ich könnte es wohl.«
»Und er würde dir gehorchen?«
»Er würde gehorchen, ja. Wenn ich ihm erklärte, daß ich wegen meiner Pflichten hierorts nicht mit ihm ziehen kann, es aber auch nicht ertragen könnte, ihn allein gehen zu lassen. Wie könnte ich so etwas von ihm verlangen, Herodes? Daß er auf etwas verzichten soll, wonach er sich so lange gesehnt hat, nur weil ich…«
»Jedoch er verlangt das von dir«, sagte Herodes.
»Nein. Inwiefern täte er das?«
»Indem er dich in eine Lage versetzt, in der du zwischen deinem Freund und deiner Stadt die Wahl treffen mußt, deiner ganzen Welt.«
»Er hat nichts dergleichen getan«, sagte Gilgamesch, doch es klang nicht sehr überzeugt.
»Wenn du aber den Übertritt ins Land der Lebenden tust«, fragte Ninsun, »wirst du danach je wieder in die Nachwelt zurückkehren können?«