»Das verstehe ich nicht. Aber ich bin sehr hungrig.«
»Ist mir klar, Freundchen. Aber erst mal zahlst du für die eine.«
»Bezahlen — dich?«
»Mich bezahlen, genau. Du verstehen? Du schpiekie die Ihnglisch recht gut.« Und er streckte ihm die Hand hin. »Rück schon rüber damit, du Schwanz! Eins-fünf-undneunzig, und hör auf, so rumzufurzen, oder ich rufe ‘nen Bullen!«
Und nun begann Gilgamesch zu begreifen.
»Ach? Du willst Bezahlung? Aber ich habe kein Geld!«
»Jesus-Hilfmir-Christus! Was bist’n du für einer? Aus dem Zirkus davongelaufen? He, Polizei! Der Kerl da will nicht für seinen Hotdog bezahlen!«
Es war nicht zu verkennen, hier drohte Ärger. Gilgamesch sah einen Mann mit einem spitzen Kopfhut, in einem grob wirkenden dunkelblauen Bekleidungsstück, das anders aussah als alle die Kleider, die sonst jemand in der Nähe trug, von weiter oben in der Straße zu ihnen hersehen. Höchstwahrscheinlich so eine Art Straßenwärter. Er begann sich mit ruhigen gleichmäßigen Schritten zu entfernen, ohne sich noch einmal umzuwenden.
Der Wursthändler aber schrie weiter laut, und der Wachmann rief ebenfalls etwas. Manche der Menschen starrten her. Nach zwanzig Schritten warf Gilgamesch über die Schulter einen Blick über die dichten Menschenmassen hinter sich und sah, daß der blaugekleidete Mann hinten irgendwie eine winkende heftige Handbewegung machte, dann die Faust wider ihn hob und schüttelte, und sich mit einem Achselzucken abwandte. Dann hörte er das wütende Schreien des Wurstverkäufers noch eine Weile, dann nicht mehr.
Wahrscheinlich war es eine zu große Mühe für den Mann, ihn in der Menschenmenge wegen der Summe für ein Würstchen zu verfolgen. Aber während Gilgamesch rasch weiter die Straße hinunterschritt, begriff er, daß er vorsichtig sein mußte. Selbstverständlich mußten die Menschen hier Geld für Nahrung fordern. Aber in seinem Beutel befand sich nichts, was aussah, als wäre es ein ortsübliches Zahlungsmittel. Anscheinend hatte ihn der Behaarte Mann hierher geschickt, ohne ihn ausreichend vorzubereiten, wie man sich in dieser anderen Welt zu verhalten hatte, und ihn so gezwungen, auf alle Reste von persönlichem Einfallsreichtum zurückzugreifen, über die er verfügte.
Er überlegte sich, ob er eine Chance hatte, mit diesem verwirrenden, komplizierten Ort zurechtzukommen. Er hatte zu lange abgesondert gelebt, war seinen einsamen Pfad durch die Wildnis gezogen, und als er sich wieder zwischen die anderen Menschen, die Männer und Weiber, begeben hatte, war er König gewesen. Von einem König wurde nicht verlangt, daß er die Kunst beherrschte, wie man auf der Straße Würstchen kauft. Sein Enkidu, ungeschliffen, direkt und ungehemmt, wie er war, Enkidu war wahrscheinlich weit besser darauf vorbereitet, sich hier zurechtzufinden, als er.
Doch wo sollte er in diesen Massen von Fremden Enkidu finden können?
Er wanderte weiter. An jeder Straßenecke standen Signalmaste mit Lampen, die angaben, zu welcher Zeit die Fahrzeuge sich bewegen durften und wann die Fußgänger. Rotes Licht — Warten. Grünes Licht — Gehen. Eine vernünftige Einrichtung, jedenfalls für hier. Doch Gilgamesch bezweifelte stark, daß so etwas in dem Zufallsdurcheinander der Nachwelt funktionieren würde, wo die Signale höchstwahrscheinlich gleichzeitig rot und grün leuchten würden, oder grün für alle, oder in einer gänzlich anderen Farbzusammenstellung.
Überall standen Verkäufer, die auf Wagen Essen feilboten. Die Düfte, die davon aufstiegen, lösten in ihm einen qualvollen Hunger aus. Ihm war ganz schwach vor Hunger, doch er zwang sich weiterzugehen. Bis er herausfand, wie man hier auf anständige Weise an Nahrung kam, wollte er mit diesem schwierigen Volk mit der ordinären Sprechweise nichts zu schaffen haben.
Vor ihm lag nun eine bedeutende Kreuzung, wo eine zweite breite Straße jene kreuzte, die er entlangging. Auf der anderen Seite erblickte er ein beeindruckendes Bauwerk, das dem recht ähnlich sah, das er ungefähr ein Dutzend Straßen weiter hinten gesehen hatte, ein Stück von der Straße abgesetzt, steinern grau, von weit geringerer Höhe als die es umgebenden Bauten, jedoch ebenfalls groß in Masse und Weite, und man gelangte von einer Plaza aus über eine weite Steintreppe hinauf. Das Gebäude hatte keine Türme, und seine Fassade war nicht mit so reichen Steinschnitzereien versehen wie die des anderen Hauses, das, wie er sich überlegte, ein heiliges Haus gewesen sein mußte, eine — wie hatte Herodes das genannt? — eine Kathedrale. Davor befanden sich zwei Statuen von Löwen, nicht besonders furchteinflößende Löwen, vielleicht Symbolfiguren für die Kraft und Güte des Ortskönigs.
Hier konnte recht gut der Regierungspalast sein, dachte Gilgamesch. Dann war es wohl angebracht, dort einzutreten, einem der Wesire zu bedeuten, daß er der König eines fernen Landes sei, durch plötzlichen Zauber hierher versetzt, und daß er seinen Bruder, den Herrscher dieses Ortes, um Gastfreundschaft bitte. Zweifellos würden sie hier nichts von Uruk gehört haben, dennoch war er zuversichtlich, daß die Beamten des Hofes ihn freundlich empfangen würden. Sie würden ihn ganz sicher ernstnehmen müssen, so königlich wie seine Haltung und sein Gehaben waren, so selbstsicher. Und gewiß würden sie ihn auch mit wärmerer Kleidung ausstatten, ihn mit einigen Münzen aus der königlichen Schatulle versehen, und der König würde ihm bei der Suche nach Enkidu helfen…
Ja. So mußte es sein. Ja.
Er begann die Treppe hinaufzusteigen.
Auf noch nicht halber Höhe fiel ihm etwas Ungewöhnliches nur ein paar Stufen weiter oben auf. Eine dunkelhaarige Frau, die für einen derart kalten Tag viel zu dünn bekleidet war, rang dort mit einem schäbig angezogenen Mann, der sie mit sich fortzuzerren versuchte, wie es aussah. Das Gewand der Frau war zerrissen, und sie fluchte und kreischte. Mit dem einen freien Arm schlug sie wütend auf den Mann ein, doch es nutzte wenig, denn dieser lachte nur und redete die ganze Zeit weiter, während er sie über die Stufen zerrte.
Am seltsamsten fand Gilgamesch, daß da zwar zahllose Leute auf den Stufen saßen, davon einige ganz in der Nähe des Mannes und der Frau, daß aber keiner dem Kampf die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Vielleicht war es Brauch in diesem Land, daß Männer den Frauen auf den Stufen vor öffentlichen Gebäuden Gewalt antun mußten. Aber verlangte dieser Brauch auch, daß niemand dem Opfer zu Hilfe kommen durfte? Seltsam, seltsam. Gilgamesch zögerte kurz, sah empört hin, wußte aber nicht, wie er angemessen reagieren sollte.
Doch dann hörte er das Weib laut schreien: »Enkidu! Wo immer du bist, hilf mir! Hilfe, Enkidu!«
Bei allen Göttern! Die Frau war Helena!
Gilgamesch setzte sich sofort in Bewegung, war im Nu die Stufen hinaufgeeilt, packte den Mann am Arm, hebelte ihn herum und verdrehte ihn ihm und zerrte ihn mit einem raschen Ruck von Helena fort.
Der Mann wirbelte herum und fauchte Gilgamesch wütend an: »He, Mann, was soll’n der Scheiß?«
»Gilgamesch! Er hat ein Messer!«
»Ich habe es gesehen.«
Die Klinge blitzte. Gilgamesch sah den Stoß kommen, der aufwärts zur Mitte seiner Brust zielte, und faßte das Handgelenk des Mannes, bevor die Waffe ihn treffen konnte. Er bog die Hand des Angreifers nach hintern Es gab ein scharfes knackendes Geräusch, und das Messer entfiel seinen Fingern. Helena hob es auf und schleuderte es die Treppe hinab. Der Mann führte vor Gilgamesch einen grotesken Tanz auf, er brabbelte und zischte vor Schmerz und Verblüffung und stieß einen Strom unverständlicher Obszönitäten aus. Voll Verachtung schlug Gilgamesch ihn, wie man nach einem lästigen Insekt schlägt. Die Ohrfeige riß den Kerl in die Luft und schickte ihn taumelnd und mit Armen und Beinen wedelnd die gesamte Treppe bis zur untersten Stufe hinab. Vor dem linken Löwenstandbild schlug er mit dem Kopf gegen die Stufenkante und landete wie ein Haufen fortgeworfener Lumpen am Sockel des Bildnisses. Er wimmerte noch ein Weilchen, dann wurde er still.