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»Aber, Bruder, Bruder!« sagte Enkidu mit einer honigsüßen Stimme, wie man sie Kindern gegenüber benutzt. »Es ist schon alles in Ordnung, Bruder! Du kannst schon sehr bald von hier fort.« Und Gilgamesch verspürte einen kurzen heftigen Kick gegen seinen Fußknöchel. »Es geht nur noch um ein paar unbedeutende Formalitäten, um die sich Mister Gallagher kümmern wird — und danach bringen wir dich hier weg und an einen höchst angenehmen Ort, wo es dir richtig gutgehen wird, und Mister Gallaghers Schwester wird dir dort alles geben, was du nötig brauchst, und wo du Hilfe erhalten wirst für alles, was dich quält — und ein weiches Bett, ein ruhiges Zimmer und Medizin, die dein verwirrtes Gemüt besänftigen wird…«

Du verdammter schäbiger Hund! dachte Gilgamesch rasend vor Zorn. Das werde ich dir heimzahlen!

Doch dann sah er das lustige Funkeln in Enkidus Augen, und sein Zorn schmolz dahin, und sein Herz floß über vor Liebe für seinen Freund, der zu ihm hierher geeilt war, um ihn zu retten, und in ihm stieg ein Lachen mit solcher Heftigkeit auf, daß er zu kämpfen hatte, es zu unterdrücken.

Die Nacht begann schon hereinzubrechen, als sie endlich aus diesem Haus waren. Vom Fluß hinter ihnen blies ein kalter Wind herüber, und Lichter blitzten wie Millionen von kleinen Sonnen an den turmhohen Gebäuden ringsum. Lärm dröhnte von allen Seiten, eine unglaubliche Kakophonie, ein Mißgetön und Brüllen und Kreischen und Hupen. Gilgamesch fühlte ein wildes Pochen hinter der Stirn. Diese Welt, in die Enkidu ihn gebracht hatte, war ihm wie ein Witz, ein sehr schlechter Witz, der sich fort und weiterspinnt und kein Ende zu finden droht.

Wenn dies hier das Land der Lebenden ist, dachte Gilgamesch, dann ist mir doch sogar die Nachwelt lieber. Er überlegte sich, was geschehen würde, wenn er sich vor eines dieser heranbrausenden Fahrzeuge stürzte. Vielleicht würde er sofort sterben und an den Ort zurückkehren, an den er gehörte. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht konnte einer nie wieder zurück, sobald er die Nachwelt einmal verlassen hatte, und er war wegen seines Frevels dazu verdammt, die restliche Ewigkeit hier an diesem Ort zuzubringen. Aber das würde wirklich die Hölle sein. Sie würden ihn zusammenflicken und ihn erneut hinausstoßen in dieses abscheuliche Lebendenland, und wieder und wieder und noch einmal und immer wieder in dieses endlose Leben.

Ist es denn mein Schicksal, dachte er, immer und allerwege ruhelos zu sein und unbefriedigt, in welcher Welt ich auch landen mag? Werde ich denn nie wieder Ruhe und Frieden finden?

Gallagher sagte dann: »Also, schön, da sind wir, frei wie die Vögel des Himmels, vogelfrei. Allerdings hat es leider fünfmal länger gedauert, als nötig gewesen wäre, um euch Burschen loszueisen.« Er schüttelte den Kopf. »Verdammt, schon halb fünf, und wir sind hier am Arsch des Teufels in der First Avenue, und ich muß bald den Club aufmachen…«

Wer ist dieser Mensch, überlegte Gilgamesch, den Enkidu gefunden hat?

Gallagher redete die ganze Zeit weiter, und es schien ihn nicht zu kümmern, ob sie ihm zuhörten oder irgend etwas verstanden. »Ach, dann machen wir eben heute ‘n bißchen später auf. Wenigstens haben wir deine Freunde losgeeist, Hinky, und das ist erst mal am wichtigsten. Ich hab mich fast vollgepißt, als dieser Psychiaterbubi am Ende, als ich schon dachte, wir hätten’s geschafft, nach der Telefonnummer meiner Schwester und der Adresse der Iranian-American Friendship League fragte…«

»Aber du hast ihm doch die Telefonnummer genannt«, sagte Enkidu.

»Meine Schwester lebt in Los Angeles. Die Nummer, die ich ihm gab, ist die von ‘nem Mädchen, das ich mal kannte, hat an der Columbia Examen gemacht.«

»Und die Adresse, die du ihm genannt hast?«

»Von der Iranisch-Amerikanischen Freundschaftsliga? Jesus! Ich weiß nicht mal, ob es sowas überhaupt gibt. Ich hab’ mir das einfach ausgedacht. Aber, was soll’s, Gil, du bist da raus, und das zählt.« Gallagher streckte Gilgamesch die Hand hin. »Es freut mich, daß ich helfen konnte. Jeder Freund von Hinkadoo ist auch mein Freund. Ich bin Bill Gallagher, Manager vom Club Ultra Ultra in der Vierundfünfzig-West.«

Gilgamesch ergriff die Hand und schüttelte sie.

»Gilgamesch, Sohn des Lugalbanda«, sagte er. »Ehemals König von Uruk.«

»Freut mich enorm, dich kennenzulernen, Gil. Und das ist Helena von Troja?«

»Ich heiße Helena, ja.«

»Ich bin wirklich entzückt, Helena. So, jetzt biegen wir westlich ab in die Vierunddreißigste. Um die Zeit kriegen wir bestimmt nie ein Taxi, aber vielleicht sind die Chancen hier besser als in den kleinen Straßen.« Gallagher lachte. »Bloß so’n illegaler Fremder, das hat mir nicht gereicht, nehm’ ich an. Ach, was soll’s, zum Teufel. Hört mal, ihr könnt alle drei für ‘ne Weile im Club bleiben, wenn ihr das wollt, aber ich habe da bloß das eine Zimmer für euch alle, also müßt ihr euch verdammt schnell um ein Hotel kümmern oder sonstwas, okay? Und um irgend sowas wie ‘nen Job. Im Club brauchen wir eigentlich keine zwei Rausschmeißer, aber vielleicht könnt ihr zwei beiden euch ja abwechseln, einen Tag Hinky, dann Gil, und der andre kann vielleicht hinten aushelfen. Bei zwei solchen Brocken, wie ihr es seid, kommt bestimmt kein Kunde auf dumme Gedanken. Paßt dir das, Gil, he? Nummer Zwei Rausschmeißer im Ultra Ultra?«

»Spricht der Mann zu mir?« fragte Gilgamesch.

»Sie reden alle sehr hastig hier«, erklärte Enkidu.

»Doch ich beginne zu verstehen, was sie sagen.« Er wandte sich zu Gallagher. »Er freut sich über den Job, Bill. Ja. Sehr.«

»Fein. Und du, Helen? Du brauchst auch ‘ne Art Arbeit. Meinst du, du könntest oben-ohne?«

»Oben ohne…?«

»Du weißt schon. Strippen. Haut zeigen. Die Kugeln kullern lassen.«

Helena blickte ihn fest an. »Habe ich das richtig verstanden? Du meinst, ich soll mich vor anderen Leuten ausziehen? Meinst du das mit ›oben-ohne‹?« Sie lachte. »In dem Gedicht, das sie über mich schrieben, waren die Türme oben ohne, nicht ich.«

»Was?«

»Die Türme. Die nackten Türme Ilions.«

Gallagher sagte: »Hilf mir auf die Sprünge, Hinkadoo. Was redet sie da?«

Helena antwortete: »Aber du weißt doch: Das Angesicht, das tausend Schiffe in Bewegung setzte…«

»Aha. Ein Gedicht«, sagte Gallagher zweifelnd. »Über dich, meinst du?« Er überlegte. ›»War dies das Angesicht, das tausend Schiffe in Bewegung setzte‹ — Und das handelt von Helena von Troja?«

»Ja.«

»Und du bist…?«

»Es ist ein Witz«, mischte Enkidu sich ein. »Sie tut gern so, als wäre sie die Trojanische Helena. Genau wie mein Gilgamesch gern so tut, als ob er Gilgamesch ist, der König, der vor langer Zeit in Sumer herrschte. Ein Witz, ein Scherz, verstehst du, Bill? Bloß ein Witz.«

»In Ordnung«, sagte Gallagher.

Wie leicht Enkidu die Ortssprache angenommen hat, dachte Gilgamesch. Wie glatt ihm die Lügen von der Zunge gehen!

Es ist bloßer Lärm, dachte er. Alles in dieser Welt Gesagte und Getane ist sinnleerer Lärm, gewichtloses Getöse ohne Bedeutung. Und der Lärm wurde von Augenblick zu Augenblick unerträglicher. Das Brüllen, das Dröhnen, das Hupen, das Geschrei — er glaubte, das Herz müßte ihm vor soviel Wahnsinn zerspringen. Und doch kümmerte Enkidu sich gar nicht darum, und Helena ebenfalls nicht. Sie plauderten fröhlich immer weiter, redeten so rasch mit diesem Mann Gallagher für Gilgamesch unverständliche Worte, so daß es ihm vorkam, als wären auch ihre Worte ein verschwommener Lärm. Er blickte Enkidu verzweifelt an, doch Enkidu lächelte nur und plapperte weiter. Gilgamesch zitterte. Er hatte jetzt ein Dröhnen in den Ohren, in seinem Kopf, in der Brust. Die Lichter der großen Häuser blinkten irre, wie außer Kontrolle geratene Leuchtfeuer. Überall um ihn herum stiegen Stimmen auf und erloschen wieder, bald donnernd wie Wasserfälle, bald ersterbend zu einem unheimlichen Flüstern. Völlig fremde Menschen auf der Straße zeigten auf ihn, stießen sich mit den Ellbogen an und lachten.