»Seht doch, da habt ihr den Affen aus der Fabel!«
Ljuba Somow rief mitleidig:
»Oh, du bist ja ein Eulenkücken geworden!«
Turobojew lächelte höflich und verletzend, noch verletzender aber war die Gleichgültigkeit Lidas, die ihre Hand auf Igors Schulter legte und Klim mit einer Miene ansah, als wünsche sie, ihn nicht zu erkennen. Sie seufzte müde und fragte beiläufig:
»Sind deine Äugen erkrankt? Warum tut dir eigentlich immer etwas weh?«
»Mir tut niemals etwas weh!« sagte Klim empört, er fürchtete, daß er sofort in Tränen ausbrechen würde.
Doch von diesem Tag an bemächtigte sich seiner glühender Haß gegen Boris, und dieser, der sein Gefühl rasch erraten hatte, tat alles, es zu schüren, indem er jeden Schritt und jedes Wort Klims grausam verspottete. Die Vergnügungsreise hatte sichtlich nicht vermocht, Boris zu beruhigen, er blieb so gereizt, wie er aus Moskau gekommen war, genau so argwöhnisch und sprungbereit funkelten seine dunklen Augen, und von Zeit zu Zeit überfiel ihn eine sonderbare Zerstreutheit und Müdigkeit, er hörte auf zu spielen und zog sich in einen Winkel zurück.
»Um zu weinen«, erriet Klim mit wohltuendem Grimm.
Immer noch waren seine Schwester und Turobojew gleich sorglich und liebevoll um Boris bemüht, betreute ihn Wera Petrowna, erheiterte ihn der Vater. Alle ertrugen geduldig seine Launen und plötzlichen Zornesausbrüche. Klim, der sich abquälte, das Geheimnis zu enträtseln, forschte alle aus. Aber Ljuba Somow sagte sehr gelehrt:
»Es sind die Nerven, verstehst du? Solche weißen Fäden im Körper und die zittern.«
Turobojews Erklärung ließ ebensoviel zu wünschen übrig:
»Er hatte eine Unannehmlichkeit, aber ich möchte nicht davon sprechen.«
Endlich forderte Lida, ihre Brauen furchend und die Lippen schief ziehend, ihn auf:
»Schwöre, daß Boris nie erfährt, daß ich es dir gesagt habe!«
Klim schwor aufrichtig, das Geheimnis zu hüten, und nahm mit Gier ihren aufgeregten, wirren Bericht entgegen:
»Boris ist von der Kriegsschule ausgeschlossen worden, weil er seine Kameraden, die etwas begangen hatten, nicht verraten wollte ... Nein, nicht deshalb«, verbesserte sie sich eilig und sah sich ängstlich um, »dafür kam er in den Karzer, aber ein Lehrer verbreitete trotzdem, Boris sei ein Zuträger, und als man ihn aus dem Karzer herausließ, prügelten die Jungens ihn in der Nacht durch. Da hat er während der Stunde dem Lehrer seinen Zirkel in den Bauch gestoßen, und man hat ihn relegiert...«
Schluchzend fügte sie hinzu:
»Er wollte auch sich töten, ihn hat sogar der Irrenarzt behandelt.«
Ihre schwarzen Augen trübten sich ungewöhnlich stark mit Tränen, und diese Tränen schienen Klim auch schwarz zu sein. Er wurde verlegen. Lida weinte so selten, und jetzt, in Tränen gebadet, war sie den übrigen Mädchen ähnlich, hatte ihre Unvergleichlichkeit eingebüßt und erregte in Klim ein Gefühl, das dem Mitleid verwandt war. Ihre Erzählung rührte ihn weder, noch wunderte sie ihn, er hatte immer von Boris ungewöhnliche Handlungen erwartet. Er nahm die Brille ab, spielte mit den Gläsern und sah scheel auf Lida, ohne ein Wort des Trostes zu finden. Und trösten wollte er so gern. Turobojew war schon abgereist.
Sie lehnte mit dem Rücken an dem schlanken Stamm einer Birke und stieß mit der Schulter dagegen. Von den fast kahlen Zweigen rieselte gelbes Laub, Lida trat es in den Erdboden, während ihre Finger die ungewohnten Tränen von den Wangen streiften, und es war etwas Angewidertes in den hastigen Bewegungen ihrer braunen Hand. Auch ihr Gesicht war von der Sonne bronzen gedunkelt, ein blaues, rotbortiertes Kleid umschloß schön die feine, wunderliche, kleine Gestalt. Es war etwas Fremdartiges, Erregendes an ihr, wie bei Zirkusmädchen.
»Schämt er sich?« brach Klim endlich das Schweigen.
Lida sagte halblaut:
»Nun ja. Denk doch nur, er verliebt sich einmal in ein Mädchen und muß ihr alles von sich erzählen, – wie soll er ihr dann sagen, daß man ihn verprügelt hat?«
Klim nickte still.
»Ja, davon kann man nicht sprechen.«
»Er hat sogar aufgehört, mit Ljuba zu gehen, und ist jetzt immer mit Wera zusammen, weil Wera immer schweigt wie ein Kürbis«, sagte nachdenklich Lida. »Papa und ich fürchten so für Boris. Papa steht sogar nachts auf und sieht nach, ob er auch schläft, und gestern kam deine Mama zu uns, als es schon sehr spät war und alle schliefen.«
Sie neigte sinnend ihren Kopf und ging fort, mit ihren Absätzen gelbe Blätter in die Erde stampfend. Sobald sie verschwunden war, fühlte Klim sich wohlgerüstet gegen Boris und imstande, ihm seinen Spott mit Zinsen heimzuzahlen. Das war Seligkeit. Gleich am folgenden Tag konnte er sich nicht enthalten, Warawka diese Seligkeit zu zeigen. Er begrüßte ihn lässig, reichte ihm die Hand und steckte sie sofort wieder in die Tasche. Er lächelte dem Feind herablassend ins Gesicht und entfernte sich, ohne ihn eines Wortes zu würdigen. Doch auf der Schwelle des Eßzimmers wandte er sich um. Boris klammerte sich an den Rand des Tisches, biß sich die Lippen, warf den Kopf in den Nacken und blickte ihm erschrocken nach. Da lächelte Klim noch einmal. In zwei Sätzen war Warawka bei ihm, rüttelte ihn an den Schultern und fragte heiser:
»Warum lachst du?« Sein von den Blattern zerfressenes Gesicht färbte sich bunt, er entblößte die Zähne, und seine Hände zitterten auf Klims Schulter.
»Laß los!« sagte Klim, der schon fürchtete, daß Boris ihn schlagen würde. Aber jener wiederholte leise und gleichsam flehend:
»Über wen lachst du? Sprich!«
»Nicht über dich.«
Er entwand sich Boris, zog den Kopf ein und ging fort, ohne zurückzublicken.
Diese Szene hatte ihn erschreckt und flößte ihm noch größere Vorsicht gegenüber Warawka ein, doch konnte er es sich trotzdem nicht versagen, Boris gelegentlich mit dem Blick eines Menschen anzusehen, der um sein schimpfliches Geheimnis wußte. Er erkannte recht gut, daß seine höhnischen Blicke den Knaben erregten, und das tat ihm wohl, mochte Boris auch in der alten Weise fortfahren, ihn frech auszulachen, ihn immer argwöhnischer zu beobachten und gleich einem Habicht zu umkreisen. Dieses gefährliche Spiel ließ Klim bald alle Vorsicht vergessen.
An einem jener warmen, aber schwermütigen Tage, wenn die Herbstsonne von der verarmten Erde Abschied nimmt und ihr gleichsam noch einmal ihre sommerliche, belebende Kraft schenken möchte, spielten die Kinder im Garten. Klim war lebhafter als sonst. Warawka freundlicher gestimmt. Ausgelassen tollten Lida und Ljuba umher, die ältere Somow sammelte einen Strauß aus den leuchtenden Blättern des Ahorns und der Eberesche. Klim hatte einen verspäteten Käfer gefangen, reichte ihn mit zwei Fingern Boris hin und sagte:
»Gerb-tier!«
Der Kalauer stellte sich ganz von selbst ein, und Klim mußte lachen. Boris röchelte unnatürlich, holte aus, schlug ihn rasch hintereinander ein paarmal auf die Backe, warf ihn mit einem Fußtritt um und rannte windschnell und laut heulend davon.
Auch Klim schrie, weinte und drohte mit der Faust. Die Schwestern Somow suchten ihn zu beschwichtigen, Lida aber hüpfte vor ihm her und rief mit erstickender Stimme:
»Wie konntest du es wagen! Du bist gemein, du hast geschworen, ach, ich bin auch gemein!«
Sie lief weg. Die Somows führten Klim in die Küche, um ihm das Blut von dem zerschlagenen Gesicht zu waschen. Mit zornig hochgezogenen Brauen erschien Wera Petrowna, rief aber sofort erschreckt aus:
»Mein Gott, was hast du? Ist das Auge heil?«
Rasch reinigte sie das Gesicht ihres Sohnes, brachte ihn in sein Zimmer, entkleidete ihn, legte ihn zu Bett, und nachdem sie sein geschwollenes Auge mit einer Kompresse bedeckt hatte, setzte sie sich auf einen Stuhl und sagte eindringlich:
»Einen Beleidigten necken, – das ist doch sonst nicht deine Art. Man muß großmütig sein.«