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»Das ist ein Sack Kartoffeln, aber keine Eisbahn«, erklärte mißmutig Boris. »Wer kommt mit mir auf den Fluß? Wera, du?«

»Ja«, sagte die dicke, farblose Somow.

Sie schlüpften unterm Tau hindurch, faßten sich an den Händen und stürmten quer über den Fluß zu den Wiesen. Hinter ihnen bliesen die Blechinstrumente der Militärkapelle dröhnend und mißtönig einen flotten Marsch. Ljuba Somow wurde von ihrem Bekannten, dem aus dem Gymnasium ausgestoßenen Inokow, bei der Hand ergriffen und fortgezogen. Ihr Kavalier war dürftig und leicht gekleidet, er stak in einem groben Kittel, den er in den Gurt seiner viel zu weiten Hosen gesteckt hatte, und hatte eine zottige Lammfellmütze verwegen aufs Ohr geschoben. Lida warf einen Blick auf den Fluß, wo das Mädchen Somow und Boris pfeilschnell durch die Luft schossen, sich wiegend, zur blutgedunsenen Sonne hin, und forderte Klim auf, ihnen zu folgen. Doch als sie unter dem Tau hindurchgekrochen waren und gemächlich dahinschwebten, rief sie aus:

»O sieh nur!«

Aber Klim hatte es schon gesehen: Boris und die Somow waren verschwunden.

»Sie sind hingefallen«, sagte er.

»Nein«, flüsterte Lida und stieß ihn so heftig mit der Schulter, daß er in die Knie fieclass="underline"

»Sieh nur, sie sind eingebrochen!«

Und rasch eilte sie vorwärts, dorthin, wo, fast schon am anderen Ufer, auf dem lodernden Grunde des Sonnenuntergangs zwei rote Bälle krampfhaft auf und nieder hüpften.

»Schneller!« schrie Lida sich entfernend. »Den Gürtel! Wirf ihnen den Gürtel zu, schrei!«

Klim überholte sie rasch und flog mit solcher Geschwindigkeit über das Eis, daß seine weitgeöffneten Augen schmerzten.

Ihm entgegen kroch fremd und unheimlich ein immer breiter klaffendes schwarzes Loch, gefüllt von wildbewegtem Wasser, er vernahm das kalte Plätschern und erblickte zwei sehr rote Hände. Die gespreizten Finger dieser Hände umklammerten den Rand des Eises, das Eis bröckelte los und krachte, die Hände tauchten auf und verschwanden wie die gerupften Flügel eines seltsamen Vogels. Zwischen ihnen sprang von Zeit zu Zeit ein schlüpfriger, glänzender Kopf mit ungeheuren Augen im blutüberströmten Gesicht hoch, versank, und wieder zitterten über dem Wasser die kleinen, roten Hände.

Klim hörte ein heiseres Heulen:

»Laß los! Laß los! Dummkopf ... laß mich doch los!«

Kaum fünf Schritte trennten Klim vom Rande der Wake. Jählings drehte er um und schlug heftig mit den Ellenbogen aufs Eis. Auf dem Bauch liegend sah er, wie das Wasser, seltsam gefärbt und wohl sehr schwer, über Boris Schultern und Kopf spülte. Es riß seine Hände vom Eis los, schlug ihm tändelnd über den Kopf, striegelte Gesicht und Augen. Das ganze Gesicht Warawkas heulte wild, es schien, daß auch die Augen heulten:

»Die Hand ... gib die Hand!«

»Sofort! Sofort!« stammelte Klim, und mühte sich ab, die glühend kalte Riemenschnalle loszuhaken. »Halt dich fest ... sofort!«

Es gab einen Augenblick, wo Klim dachte, daß es schön sein müßte, Boris mit diesem verzerrten und erschrockenen Gesicht, so hilflos und unglücklich nicht hier, sondern zu Hause zu sehen, wenn alle ihn sahen, wie er in dieser Minute war.

Doch dies dachte er nur neben dem Entsetzen, das ihn mit lähmender Kälte umklammerte. Mit Mühe hatte er endlich den Riemen abgeschnallt und warf ihn ins Wasser. Boris fing das Ende des Riemens auf, zog ihn zu sich heran und riß Klim unaufhaltsam über das Eis zum Wasser hin. Klim schrie jammernd auf, schloß die Augen und ließ den Riemen los. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, daß die schwarzvioletten schweren Wellen immer heftiger und wilder über Boris Schultern und über seinen bloßen Kopf schlugen, die kleinen rotglänzenden Hände immer näherrückten und ein Stück Eis nach dem anderen abbrach. Mit einer krampfhaften Bewegung seines ganzen Körpers glitt Klim weiter zurück vor diesen verderblichen Händen, doch kaum war er von ihnen weggekrochen, als Warawkas Hände und Kopf verschwanden. Auf dem erregten Wasser schaukelte nur die schwarze Persianermütze, schwammen bleierne Eisstücke und bäumten sich Wellenkronen rötlich in den Strahlen des Sonnenuntergangs. Klim seufzte tief und erleichtert auf. All dies Schreckliche hatte qualvoll lange gedauert. Doch obwohl das Entsetzen ihn abgestumpft hatte, wunderte er sich doch, daß Lida erst jetzt zu ihm gelangte, ihn an den Schultern packte, mit ihren Knien in den Rücken stieß und durchdringend schrie:

»Wo sind sie?«

Klim sah auf das Wasser, das beschwichtigt, nach einer Seite hin abfloß und mit Boris' Mütze spielte, sah hin und stotterte:

»Sie hat ihn hinabgezogen ... er schrie »laß mich los«, schalt sie ... Den Riemen hat er mir aus den Händen gerissen ....«

Lida schrie auf und fiel auf das Eis.

Das Eis krachte unter den Schlittschuhen, schwarze Figuren jagten zur Wake hin. Ein Mann im Halbpelz stocherte mit einer langen Stange im Wasser und brüllte:

»Auseinandergehen! Ihr werdet einbrechen! Hier ist Treibeis, meine Herrschaften, sehen Sie nicht, daß hier der Eisbrecher gearbeitet hat?«

Klim erhob sich, wollte Lida aufhelfen, wurde umgeworfen, fiel wieder auf den Rücken und schlug mit dem Hinterkopf auf. Ein schnurrbärtiger Soldat faßte ihn an der Hand und geleitete ihn über das Eis, wobei er schrie:

»Jag' alle auseinander!«

Der Bauer aber, der immer noch mit der Stange das Wasser absuchte, schrie etwas anderes:

»Gebildete Herrschaften! Kommandieren und respektieren selber nicht die Gesetze!«

Und besonders wunderte sich Klim über jemandes ungläubige Frage:

»Ja, war denn ein Junge da, vielleicht war gar kein Junge da?«

»Er war da!« wollte Klim rufen und konnte nicht.

Als er zur Besinnung kam, lag er daheim im Bett in hohem Fieber. Über ihn beugte sich das verschwimmende Gesicht der Mutter, und ihre Augen waren fremd, rot und klein.

»Hat man sie herausgeholt?« fragte Klim und verstummte, als er einen grauhaarigen Menschen mit einer Brille bemerkte, der mitten im Zimmer stand. Die Mutter legte ihre wohltuend kühle Hand auf seine Stirn und schwieg.

»Hat man sie herausgeholt?« sagte er noch einmal.

Die Mutter sagte:

»Er flüstert etwas!«

»Es ist das Fieber«, sprach mit betäubender Stimme der grauhaarige Mann.

Klim lag sieben Wochen an einer Lungenentzündung darnieder.

Während dieser Zeit erfuhr er, daß man Wera Somow begraben hatte. Boris hatte man nicht gefunden.

Zweites Kapitel.

In seinem siebzehnten Lebensjahr war Klim Samgin ein schlanker Jüngling von mittlerem Wuchs. Er bewegte sich bedächtig, gesetzt, sprach nicht viel und legte Wert darauf, seine Gedanken genau und einfach auszudrücken, wobei er seine Redewendungen mit maßvollen Gesten seiner sehr weißen und langen Musikerhände zu unterstreichen pflegte. Sein scharfes, spitznasiges Gesicht zierte eine rauchgraue Brille, die den mißtrauischen Glanz der hellblauen, kalten Augen verdeckte, während die dünnen, aber rauhen und nach der Mode kurz geschnittenen Haare und die adrette Uniform seine Ehrbarkeit hervorhoben. Ohne sich durch besondere Erfolge in den Wissenschaften auszuzeichnen, bestach er die Lehrer durch Wohlerzogenheit und gesetztes Benehmen. Er besuchte die Obersekunda, hielt sich jedoch von seinen Klassenkameraden fern. Freunde hatte er erst in den beiden letzten Klassen. Bekannt war, was Vater Tichon, der Religionslehrer, der wegen seines durchdringenden Verstandes berühmt war, auf der Lehrerkonferenz über Klim sagte:

»Die Saite seines Verstandes ist wohltönend und hoch gestimmt. Vor allem aber schätze ich an ihm sein vorsichtiges, ja skeptisches Verhältnis gegenüber jenen eitlen Zerstreuungen, denen unsere Jugend sich so bereitwillig hinzugeben pflegt.«

Xaveri Rziga, der nicht gealtert, doch um so mehr eingetrocknet war, schärfte Klim ein: