Klim liebte solche Redewendungen, er fühlte dunkel ihren glatten Doppelsinn, und bemerkte, daß man gerade sie für Weisheit hielt. Wenn er in den Nächten vor dem Einschlafen alles, was er tagsüber gehört hatte, an sich vorbeiziehen ließ, siebte er das Unverständliche und Dunkle wie Schale aus und bewahrte im Gedächtnis sorgsam die vollen Körner mannigfacher Weisheiten, um sich bei Gelegenheit ihrer zu bedienen und seinen Ruf eines besinnlichen Jünglings ein übriges Mal zu rechtfertigen. Er verstand, Angeeignetes so vorsichtig, nebenher und zugleich lässig zu sagen, daß das Gesagte nur ein winziger Teil der Schätze seines Geistes zu sein schien, und es gab glückliche Augenblicke des Triumphes, die ihn, sooft er sich ihrer erinnerte, veranlaßten, sich ebenso zu bewundern, wie ihn die andern bewunderten.
Doch stets dachte Klim gleich darauf mit Zweifel und mit einem Verdruß, der einer schlimmen Trübsal glich, an Lida, die ihn durchaus nicht so sehen konnte oder wollte, wie die anderen ihn sahen. Tage und Wochen bemerkte sie ihn überhaupt nicht, als wäre er für sie ohne Körper, farblos, überhaupt nicht da. Die Heranwachsende wurde ein wunderliches und schwieriges Mädchen. Warawka lächelte sein großes rotes Lächeln in seinen fuchsroten Bart, wenn er von ihr sagte:
»Sie ist ganz wie ihre Mutter. Die war auch eine Meisterin, sich etwas einzubilden, und was sie sich einmal eingebildet hatte, daran glaubte sie.«
Das Verbum »Einbilden«, das Substantiv »Einbildung« führte Lidas Vater häufiger im Munde als alle übrigen Bekannten, und dieses Wort übte immer eine beruhigende Wirkung auf Klim. Immer, doch nicht in der Anwendung auf ein Erlebnis mit Lida, das in ihm ein sehr verwickeltes Gefühl für dieses Mädchen hervorrief.
Ein Jahr nach Boris' Tod, in dem Sommer, als Lida zwölf Jahre alt geworden war, weigerte Igor Turobojew sich, die Kriegsschule weiter zu besuchen, und sollte auf eine andere, die sich in Petersburg befand. Damals nun, einige Tage vor seiner Abreise, erklärte Lida beim Frühstück ihrem Vater in bestimmtem Ton, daß sie Igor liebe, ohne ihn nicht leben könne und nicht wünsche, daß er in einer anderen Stadt die Schule besuche.
»Er soll hier leben und lernen«, sagte sie und schlug dabei mit ihrer kleinen, aber starken Faust auf den Tisch, »und wenn ich fünfzehn Jahre und sechs Monate alt bin, lassen wir uns trauen.«
»Das ist Unsinn, Lida«, sagte streng der Vater, »ich verbiete dir...«
Ohne sich dafür zu interessieren, was er verbot, stand sie auf und ging hinaus, bevor Warawka sie zurückhalten konnte. Von der Tür her, sich am Pfosten haltend, sagte sie:
»Das ist Gottes Fügung.«
»Was für ein überspanntes Mädchen«, bemerkte die Mutter und sah ermutigend auf Klim. Der lachte, da lachte auch Warawka. Aber bevor sie ihr Frühstück beendigen konnten, erschien Turobojew, bleich, mit blauen Schatten unter den Augen. Er machte einen korrekten Kratzfuß vor Klims Mutter, küßte ihr die Hand, trat darauf vor Warawka hin und erklärte mit klingender Stimme, er liebe Lida, könne nicht nach Petersburg fahren und bitte Warawka...
Ohne das Ende seiner Rede abzuwarten, brach Warawka in brüllendes Gelächter aus, dermaßen, daß sein ungetümer Kopf hin und her schaukelte und der Stuhl unter ihm krachte. Wera Petrowna lächelte herablassend. Klim betrachtete Igor mit unangenehmer Verwunderung. Igor aber stand regungslos, doch er schien immer länger zu werden. Er wartete, bis Warawka sich satt gelacht hatte, und sagte dann mit der gleichen, klingenden Stimme:
»Ich bitte Sie, meinem Vater zu sagen, wenn das nicht geschehe, würde ich mich umbringen. Ich bitte Sie, mir Glauben zu schenken. Papa glaubt mir nicht.«
Einige Sekunden blieben der Mann und die Frau stumm und wechselten Blicke miteinander. Dann wies die Mutter Klim mit den Augen die Tür. Klim ging verwirrt auf sein Zimmer, ratlos, wie er sich dieser Szene gegenüber verhalten solle. Vom Fenster aus sah er: Warawka führte, grimmig seinen Bart schüttelnd, Igor an der Hand auf die Straße und kehrte bald darauf mit Igors Vater zurück, einem kleinen dürren und kahlköpfigen Mann, der ein graues Jakett und graue Hosen mit roten Biesen trug. Lange wandelten sie im Garten auf und ab. Der graue Schnurrbart des alten Turobojew zitterte unaufhörlich. Er redete etwas mit heiserer, gebrochener Stimme, Warawka blökte dumpf, wischte sich ein Mal übers andre das rote Gesicht und nickte mit dem Kopf. Da kam die Mutter herein und befahl Klim streng:
»Es ist Zeit für dich, zu Tomilin zu gehen. Du wirst ihm natürlich kein Wort von diesen Dummheiten sagen ...«
Als Klim vom Unterricht heimkam, und zu Lida wollte, sagte man ihm, daß er das nicht dürfe. Lida sei in ihrem Zimmer eingesperrt. Es war ungewöhnlich öde und beängstigend still im Haus, Klim schien, daß gleich jemand mit schrecklichem Gepolter hinfallen würde, aber nichts fiel. Die Mutter und Warawka gingen aus. Klim lief in den Garten und versuchte, in das Fenster von Lidas Zimmer hineinzublicken. Das Mädchen ließ sich nicht sehen, nur der zerzauste Kopf Tanja Kulikows tauchte von Zeit zu Zeit auf. Klim setzte sich auf eine Bank und verweilte lange, ohne etwas zu denken. Er sah nichts vor sich als die Gesichter Igors und Warawkas und wünschte, daß Lida gehörig verprügelt würde, Lida aber... Er grübelte lange, wie man sie bestrafen müßte, und fand für das Mädchen keine Strafe, die nicht auch ihm weh getan haben würde.
Die Mutter und Warawka kehrten sehr spät zurück. Er schlief schon. Ihn weckten Gelächter und Lärm aus dem Eßzimmer. Sie lachten wie Betrunkene. Warawka versuchte immerfort zu singen, die Mutter aber schrie:
»Nicht so! Falsch!«
Dann gingen sie in den Salon hinüber. Die Mutter spielte etwas Lustiges, doch plötzlich brach die Musik ab. Klim schlief wieder ein und wurde von einem dumpfen Hin- und Herrennen über seinem Kopfe geweckt. Gleich darauf ertönten Rufe:
»Was für eine teuflische Posse! Lida ist fort! Tatjana döst, und Lida ist fort! Verstehst du, Wera?«
Klim sprang aus dem Bett, warf sich in die Kleider und rannte ins Eßzimmer, aber dort war es dunkel, nur im Schlafzimmer der Mutter brannte Licht. Warawka stand in der Tür und stemmte beide Arme gegen den Türpfosten wie ein Gekreuzigter. Er hatte einen Schlafrock an und Pantoffel an den nackten Füßen. Die Mutter hüllte sich hastig in ihren Rock.
Man befahl Klim, Dronow zu wecken, und Lida im Garten und auf dem Hof zu suchen, wo bereits Tanja Kulinow schuldbewußt mit gedämpfter Stimme rief:
»Lida! Was für Dummheiten! Liduscha!«
Klim war unsagbar wunderlich zumute, diesmal glaubte er, an einer Erfindung teilzunehmen, die unvergleichlich interessanter war als alles, was er kannte, – interessanter und schrecklicher. Auch die Nacht war seltsam, ein heißer Wind fuhr rauschend durch die Bäume und erstickte alle Gerüche in trockenem, warmem Staub. Über dem Himmel krochen Wolken, löschten jeden Augenblick den Mond aus. Alles schwankte und bot das Bild einer unheimlichen Widerstandslosigkeit, die angstvolle Beklommenheit einflößte. Dronow lief verschlafen und wütend auf seinen krummen Beinen umher, stolperte, gähnte und spuckte aus. Er hatte gestreifte Zwillichunterhosen und ein dunkles Hemd an. Seine Gestalt verschwand auf dem dunklen Grunde des Gebüsches, während sein Kopf gleich einer Blase in der Luft schwamm.
»Gewiß ist sie zu den Turobojews in den Garten gelaufen«, mutmaßte Dronow.
Ja, sie war dort. Sie kauerte auf der Lehne einer Gartenbank, unter einem Vorhang von Sträuchern. Die von der Dunkelheit verwischte zierliche Figur des Mädchens war unförmig gekrümmt, und etwas an ihr erinnerte entfernt an einen großen weißen Vogel.
»Lida«, rief Klim.
»Was brüllst du wie ein Gendarm«, sagte Dronow halblaut, stieß Klim brutal mit der Schulter zur Seite und forderte Lida auf:
»Was wollen Sie hier sitzen, kommen Sie mit nach Hause.«