Klim empörte Dronows Grobheit, Ihn befremdete seine sanfte Stimme und das »Sie«, womit er Lida anredete, als wäre sie eine Erwachsene.
»Man hat ihn geschlagen, nicht wahr?« fragte das Mädchen, ohne sich zu rühren und ohne die hingestreckte Hand Dronows zu nehmen. Ihre Worte klangen spröde, so wie kleine Mädchen sprechen, wenn sie sich ausgeweint haben. »Ich bin gefallen wie eine Blinde, als ich über den Zaun stieg«, sagte sie schluckend, »wie ein Schaf. Ich kann nicht gehen.« Klim und Dronow hoben sie von der Bank und stellten sie auf die Erde, aber sie stöhnte und fiel wie eine Puppe hintenüber. Die Knaben konnten sie kaum auffangen. Während sie sie nach Hause geleiteten, erzählte Lida, daß sie nicht beim Überklettern des Zauns gefallen sei, sondern bei dem Versuch, am Abflußrohr zu Igors Fenster hinaufzuklettern.
»Ich wollte wissen, was er macht.«
»Er schläft«, sagte Dronow.
Lida preßte die Hand an den Mund und sog schweigend das Blut von den zerbrochenen Fingernägeln.
Auf dem Hof empfing Warawka sie im Schlafrock und einer ärmellosen tatarischen Jacke darüber und brüllte die Tochter an:
»Was fällt dir ein?«
Doch plötzlich nahm er sie erschrocken auf den Arm und hob sie hoch.
»Was hast du?«
Da sagte das Mädchen mit einer Stimme, deren Klang Klim lange nicht vergaß:
»Ach, Papa, das verstehst du nicht! Du kannst es ja nicht... Du hast Mama nicht geliebt.«
»Still! Bist du verrückt geworden?« zischte Warawka und lief mit ihr ins Haus. Im Laufen verlor er einen seiner Saffianpantoffel.
»Nett wild geworden ist die Ziege!« sagte spöttisch lachend Dronow. »Na, ich werde schlafen gehen.«
Aber er ging nicht, sondern hockte sich auf die Stufen der Küchentreppe, kratzte sich die Schulter und brummte:
»Hat die sich ein Spiel ausgedacht...«
Klim schlenderte durch den Hof und grübelte bohrend: war das alles wirklich nichts als Spiel und Einbildung? Aus dem offenen Fenster im zweiten Stockwerk drangen die zänkischen Stimmen Warawkas und der Mutter. Tanja Kulikow kam eilig die Treppe herab.
»Sperr das Tor nicht ab, ich laufe zum Arzt«, sagte sie und rannte auf die Straße hinaus.
Dronow brummte höhnisch wütend:
»Rziga hat mich gezwungen, die Ilias und die Odyssee zu lesen. Das ist mal ein Quatsch! Trottel sind diese Achillesse und Patroklusse! Ein Stumpfsinn. Die Odyssee geht noch, wenigstens hat Odysseus ohne Rauferei allen ein Schnippchen geschlagen. Ein Gauner. Wenn auch nur einer mit kurzen Beinen.«
»Klim, zu Bett!« rief Wera Petrowna streng aus dem Fenster, »Dronow, weck den Hausmeister und geh dann auch schlafen.«
Dieser Roman war in wenigen Tagen Stadtgespräch. Die Gymnasiasten fragten Klim:
»Ist sie hübsch?«
Klim antwortete zurückhaltend. Er wünschte nicht davon zu reden. Dronow hingegen schwatzte angeregt:
»Schön nicht, denn sie hat sich verliebt. Ein schönes Mädchen wird sich nie verlieben. Spaß!«
Klim hörte sein Geschwätz mit Unwillen, hoffte jedoch heimlich, Dronow würde etwas sagen, was seine Zweifel, unter denen er sehr litt, verscheuchte.
»Ich sag ihr: ›Du bist ja noch ein dummes Mädel‹«, erzählte Dronow den Knaben. »Und ihm sag ich auch... Na, für ihn ist es natürlich eine Sache, wenn man sich in ihn verliebt...«
Es war ärgerlich, mitanzuhören, wie Dronow aufschnitt, da er aber bemerkte, daß diese Lügen Lida zur Heldin der Gymnasiasten machten, hinderte Klim Iwan nicht. Die Jungen lauschten ernst, und die Augen einiger unter ihnen blickten mit jener seltsamen Trauer, die Klim schon von den porzellanenen Augen Tomilins her kannte.
Lida hatte sich den Fuß verstaucht und hütete elf Tage das Bett. Auch ihr linker Arm lag im Verband. Bevor Igor abreiste, brachte ihn die dicke, schnaufende Frau Turobojew unter schrecklichem Augenrollen zu Lida, damit er ihr Lebewohl sagen konnte. Die Liebenden umarmten sich weinend, und auch Igors Mutter vergoß Tränen.
»Es ist komisch, aber schön«, sagte sie und wischte sich behutsam ihre vorquellenden Augen, »es ist schön, weil es altmodisch ist.«
Warawka blökte unmutig ein massives und unbekanntes Wort.
Um die Kinder zu beruhigen, erklärte man ihnen: gewiß, sie seien Bräutigam und Braut, das sei ausgemacht. Sie sollten einander heiraten, sobald sie groß wären; bis dahin werde ihnen erlaubt, einander zu schreiben. Klim überzeugte sich bald, daß sie betrogen wurden. Lida schrieb Igor jeden Tag, übergab die Briefe Igors Mutter und wartete ungeduldig auf Antwort. Aber Klim stellte fest, daß Lidas Briefe in Warawkas Hände fielen, daß der sie Klims Mutter vorlas und beide lachten. Lida wurde allmählich rasend, und dann sagte man ihr, Igors Schule sei so streng, daß die Vorgesetzten den Knaben nicht einmal gestatteten, ihren Angehörigen zu schreiben.
»Es ist wie im Kloster«, log Warawka, und Klim mußte an sich halten, um nicht Lida zuzurufen:
»Deine Briefe sind in seiner Tasche.«
Aber Klim sah, daß Lida die Märchen ihres Vaters mit aufgeworfenen Lippen anhörte und ihnen keinen Glauben schenkte. Sie zupfte an ihrem Taschentuch oder am Saum ihrer Gymnasiastinnenschürze und blickte vor sich hin oder zur Seite, als schäme sie sich, in das breite, blutunterlaufene, bärtige Gesicht zu schauen. Trotzdem sagte Klim eines Tages:
»Weißt du, daß sie dich betrügen?«
»Schweig!« schrie Lida und stampfte mit dem Fuß auf. »Das ist nicht deine Sache, nicht dich betrügt man. Und Papa betrügt mich auch nicht, er hat nur Angst...« Sie errötete vor Zorn und lief weg.
In der Schule galt sie als eine der mutwilligsten Schülerinnen. Sie lernte ohne Ernst. Wie ihr Bruder brachte sie Schwung in alle Spiele und, wie Klim aus Klagen über sie erfuhr, viel Launenhaftigkeit, viel Sucht, andere auf die Probe zu stellen, und sogar Bosheit. Sie war noch frömmer geworden, besuchte eifrig den Gottesdienst, und in Augenblicken der Nachdenklichkeit blickte sie aus ihren schwarzen Augen so durchdringend auf alles, daß Klim Angst vor ihr empfand.
Ihn behandelte sie beinahe ebenso geringschätzig und ironisch wie die übrigen Knaben. Jetzt bat nicht sie Klim, sondern er sie:
»Komm, wir gehen und plaudern miteinander?«
Sie ließ sich nur selten und ungern darauf ein. Auch erzählte sie Klim nicht mehr von Gott, Katzen und Freundinnen, sondern hörte abwesend seine Berichte über das Gymnasium und seine Urteile über Lehrer, Knaben und gelesene Bücher. Als Klim ihr einmal mitteilte, daß er nicht an Gott glaube, sagte sie verächtlich:
»Das ist Unsinn. In meiner Klasse haben wir ein Mädel, das auch nicht an Gott glaubt, aber das tut sie nur, weil sie bucklig ist.«
Drei Jahre lang kam Igor Turobojew in den Ferien nicht nach Hause, Lida erwähnte ihn nie. Als Klim einmal den Versuch machte, das Gespräch auf ihren treulosen Geliebten zu bringen, schnitt sie kalt ab:
»Über Liebe kann man nur mit einem einzigen sprechen.«
Mit fünfzehn Jahren war Lida lang aufgeschossen, dabei aber zierlich und leicht wie früher, und sie schnellte im Gehen noch immer hoch wie eine Feder. Sie wurde eckig, die Knochen ihrer Schultern und Hüften ragten vor, und obwohl die Brüste sich bereits scharf abzeichneten, waren sie spitz wie Ellenbogen und stachen Klim unangenehm in die Augen. Ihr Gesicht war Klim vertraut. Um so angstvoller war sein Staunen, als er bemerkte, wie in ihren Zügen, die sich ihm so fest eingeprägt hatten, sich etwas Neues und Rätselhaftes zeigte. Zeitweilig war dieses Neue so deutlich sichtbar, daß es Klim trieb, das junge Mädchen zu fragen:
»Was haben Sie?«
Manchmal fragte er: »Was fehlt dir?«
»Nichts«, erwiderte sie mit leichtem Erstaunen, »warum fragst du?«
»Ihr Gesicht ist so anders.«
»Ja? Wie denn?«
Diese Frage konnte er nicht beantworten. Manchmal sagte er ihr »Sie«, ohne darauf zu achten. Sie merkte es auch nicht.