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»Wie geht es Ihnen?« fragte sie.

»Ganz leidlich«, erwiderte Tomilin leise und anscheinend ungehalten.

Ein oder zwei Mal kam auch Warawka selbst, sah sich die Sache an, hörte zu und sagte zu Hause mit einer abwinkenden Geste zu Klim und seiner Tochter:

»Die übliche russische Kwasküche. Eine Jahrmarktsbude, wo Kunststücke gezeigt werden, die längst aus der Mode sind.«

Klim fand diese Bemerkung sehr treffend. Seitdem schien ihm, daß in den Flügel alles zusammengefegt worden sei, was vor zehn Jahren die Gemüter im Hause aufgewühlt hatte. Gleichwohl sah er ein, daß es für ihn von Nutzen, wenn auch manchmal langweilig war, den Schriftsteller zu besuchen. Es erinnerte gewissermaßen an das Gymnasium, mit dem Unterschied jedoch, daß die Lehrer nicht ärgerlich wurden, ihre Schüler nicht anschrien, sondern sie mit unzweifelhaftem und heißem Glauben an ihre Kraft in der Wahrheit unterrichteten. Dieser Glaube sprach beinahe aus jedem Wort, und obwohl er Klim nicht hinzureißen vermochte, trug er doch einige Gedanken und treffende Aussprüche aus dem Flügel davon, außerdem aber etwas, was nicht klar war, was er aber brauchte. Er nannte es Menschenkenntnis.

Makarow trank andächtig Schnaps und aß dazu knirschende saure Gurken. Von Zeit zu Zeit flüsterte er Klim etwas Erbostes ins Ohr:

»Das Vermächtnis der Väter! Mein Vater vermachte mir: lerne, du Taugenichts, sonst jage ich dich aus dem Hause, und du kannst Landstreicher werden! Na schön, ich lerne, aber ich glaube nicht, daß man an diesem Ort etwas lernen kann.«

Man machte den jungen Leuten den Hof, aber das genierte sie. Makarow, Ljuba Somow und selbst Klim saßen stumm und gedrückt da, und Ljuba bemerkte einmal seufzend:

»Wenn sie reden, ist es, als praßle ein Regenguß herab. Ich muß den Regenschirm aufspannen und kann nicht hören, was ich denke.«

Einzig Iwan Dronow stellte aufdringlich und in unnötig kreischendem Ton Fragen nach der Intelligenz und nach der Bedeutung der Persönlichkeit in der Geschichte. Fachmann für diese Fragen war jener Mensch, der an eine Milchamme erinnerte. Unter allen Freunden des Schriftstellers schien er Klim derjenige, der am tiefsten gekränkt war.

Bevor er eine Frage beantwortete, überflog dieser Mensch alle Anwesenden mit hellen Augen und krächzte zögernd, beugte sich alsdann nach vorn, streckte seinen Hals aus und zeigte hinter dem linken Ohr eine nackte, knochige Beule von der Größe einer kleinen Kartoffel.

»Dies ist eine Frage von tiefster, allgemein menschlicher Bedeutung«, hub er mit hoher, aber ein wenig müder und klangloser Stimme an. Der Schriftsteller Katin erhob, um auf den bedeutsamen Moment aufmerksam zu machen, die Hand und die Augenbrauen und überflog gleichfalls die Anwesenden mit einem Blick, der beredt »Ruhe! Aufmerksamkeit!« heischte.

»Nirgends in der Welt aber wird diese Frage so zugespitzt wie bei uns in Rußland, nennen wir doch eine Kategorie Menschen unser eigen, die nicht einmal der hochgezüchtete Westen hervorbringen konnte. Ich spreche eben von der russischen Intelligenz, von jenen Menschen, deren Los Kerker, Sibirien, Zuchthaus, Folter und Galgen ist«, redete bedächtig dieser Mensch. Klim witterte im Ton seiner Reden immer etwas Eigentümliches, es war, als versuche der Redner gar nicht erst seine Zuhörer zu überzeugen, sondern begnüge sich mit dem hoffnungslosen Versuch, sie zu überreden. Die Worte »Zuchthaus«, »Folter« gebrauchte er so oft und geläufig, als wären es die gewöhnlichsten Ausdrücke. Klim gewöhnte sich daran, sie zu hören, ohne ihren schrecklichen Inhalt zu empfinden. Makarow, der alle immer skeptischer betrachtete, flüsterte:

»Er redet so, als wäre das alles vor dreihundert Jahren geschehen. Der Amme ist die Milch geronnen.«

Aus einer Ecke blickten Tomilins weiße Augen unverwandt auf die »Amme«. Leise erkundigte er sich von Zeit zu Zeit:

»Sie beschuldigen Marx, die Persönlichkeit aus der Geschichte gestrichen zu haben. Aber hat nicht das gleiche in ›Krieg und Frieden‹ Leo Tolstoi getan, der doch als Anarchist gilt?«

Auch hier war Tomilin unbeliebt. Man antwortete ihm wortkarg und achtlos. Klim fand, daß dies dem rothaarigen Lehrer gefiel, und daß er sie absichtlich reizte. Einmal schleuderte Katin eine Zeitschrift, nachdem er über einen darin veröffentlichten Aufsatz geschimpft hatte, auf die Fensterbank. Das Heft fiel auf den Fußboden. Tomilin sagte:

»Ein Heiligenbild würden Sie, obzwar Sie ungläubig sind, nicht so verächtlich in die Ecke geschleudert haben, und dabei steckt mehr Seele in einem Buch als in einer Ikone.«

»Seele?« fragte verlegen und ärgerlich der Schriftsteller und fügte ungeschickt, aber noch unwilliger hinzu:

»Was hat das mit Seele zu tun? Es ist ein publizistischer Artikel, der sich auf statistische Daten stützt. Seele!«

Der Schriftsteller war ein leidenschaftlicher Jäger und Naturschwärmer. Wohlig blinzelnd, schmunzelnd und seine Worte mit einer Menge kleiner Gesten unterstreichend, erzählte er von jungfräulichen Birken, der versonnenen Stille der Waldschluchten, den bescheidenen Blümchen der Auen und dem hellen Gesang der Vögel, und erzählte es so, als habe er als Erster all das gesehen und belauscht. Während er die Handflächen in der Luft bewegte wie ein Fisch die Schwimmflossen, schwelgte er in Rührung:

»Und allüberall ist das unbesiegbare Leben, alles strebt empor zum Himmel und spottet des Gravitationsgesetzes!«

Tomilin erkundigte sich händereibend:

»Sie, der Sie so rührend von Ihrer Liebe zu allem Lebendigen zu sprechen wissen, wie kommt es, daß Sie aus bloßem Vergnügen am Mord Hasen und Vögel töten? Wie ist das miteinander vereinbar?«

Der Schriftsteller wandte ihm die Seite zu und sagte barsch:

»Auch Turgeniew und Nekrassow waren Jäger. Ebenso Tolstoi in seiner Jugend, überhaupt viele bedeutende Geister. Sie sind wohl ein Anhänger Tolstois?«

Tomilin lächelte spöttisch und rief das verständnisinnige Lächeln Klims hervor. Ihm wurde dieser unabhängige Mann, der gelassen und eigensinnig, ohne jemand nachzugeben, treffliche Worte, die sich einprägten, zu sagen wußte, immer mehr zum Vorbild.

Krampfhaft mit den Armen fuchtelnd und vor Eifer bis zu den Schultern errötend, entkleidete der Schriftsteller die russische Geschichte ihres ehrwürdigen Schimmers und stellte sie als eine lastende, endlose Kette lächerlicher, schmutziger und alberner Anekdoten dar. Über das Lächerliche und Dumme daran lachte er selbst als erster, wenn er aber auf die Grausamkeiten der Regierung zu sprechen kam, preßte er seine Faust gegen die Brust oder fuhr mit ihr in der Herzgegend herum. Stets war es peinlich zu sehen, daß er nach seiner flammenden Rede ein Glas Branntwein hinunterstürzte, das er mit einer dick mit Senf bestrichenen Brotrinde würzte.

»Lesen Sie die ›Geschichte von Dummenstadt‹«, riet er, »das ist die wahre und ungeschminkte Geschichte Rußlands.«

Makarow hörte die Reden des Schriftstellers an, ohne ihn anzusehen. Er preßte die Lippen fest aufeinander und bemerkte dann zu den Kameraden:

»Weshalb prahlt er damit, daß er unter Polizeiaufsicht steht? Als hätte er im Betragen ›Sehr gut‹ erhalten.«

Ein anderes Mal beobachtete er, wie der Schriftsteller sich wand und krümmte und sagte zu Lida:

»Sehen Sie, unter welchen Wehen die Wahrheit geboren wird?«

Lida runzelte die Stirn und rückte von ihm ab.

Sie besuchte selten den Flügel. Schon nach dem ersten Besuch, – sie hatte den ganzen Abend an der Seite der freundlichen und stimmlosen Schriftstellersgattin zugebracht –, sagte sie befremdet: