»Warum schreien die so? Schon denkt man, sie werden gleich aufeinander losschlagen, da setzen sie sich zu Tisch, trinken Tee und Schnaps und kauen Pilze ... Die Frau des Schriftstellers hat mir die ganze Zeit die Schulter gestreichelt, als wäre ich eine Katze ...«
Lida schauderte zusammen, furchte die Brauen und fügte fast mit Ekel hinzu:
»Und dann, ihr Bauch! Ich kann Schwangere nicht ausstehen!«
»Ihr alle seid böse!« rief Ljuba Somow. »Mir aber gefallen diese Menschen. Sie gleichen dem Koch in der Küche vor einem hohen Feiertag, – Ostern oder Weihnachten.«
Klim sah das unschöne Mädchen mißbilligend an. Neuerdings mußte er feststellen, daß Ljuba klüger wurde, und dies berührte ihn aus irgendeinem Grunde unsympathisch. Aber es gefiel ihm sehr, zu sehen, daß Dronow seine Selbstgefälligkeit verlor, und auf seinem eingefallenen, sorgenvollen Gesicht Züge der Trübsal hervortraten. In seine kreischenden Fragen mischte sich jetzt eine Note des Ärgers, und er lachte zu lange und zu laut, als Makarow, der ihm etwas erzählte, scherzte:
»Nun, Iwan? Spürst du's, wie die Wissenschaft die Jünglinge foltert? Und dennoch, Brüder, was ist die Intelligenz?« forschte er.
Klim dozierte mit den Worten Tomilins:
»Die Intelligenz, das sind die Besten des Landes, Menschen, auf deren Schultern die Verantwortung für alles Schlechte lastet.«
Sogleich fiel Makarow ein:
»Also sind es jene Gerechten, um deretwillen Gott bereit war, Sodom und Gomorrha oder sonst was Verhurtes zu schonen? Diese Rolle ist nichts für mich. Nein.«
»Gut gesagt«, dachte Klim, und, um sich das letzte Wort zu sichern, erinnerte er an Warawkas Ausspruch:
»Es gibt da auch einen anderen Gesichtspunkt: ein Intelligenzler ist ein hochqualifizierter Arbeiter, und damit basta.«
Doch Makarow erriet sofort:
»Das riecht nach Warawka.«
Das Gefühl heimlicher Abneigung gegen Makarow wuchs in Klim, Makarow pfiff laut und frech vor sich hin und sah auf alles mit den Augen eines Menschen, der soeben aus einer großen Stadt in eine kleine kommt, in der es ihm nicht gefällt.
Er gab oft und geläufig nicht weniger bemerkenswerte Aussprüche und Meinungen von sich als Warawka und Tomilin. Klim war eifrig bemüht, die Gabe eigener Worte in sich zu entwickeln, fühlte aber fast immer, daß sie entfernt nach dem Echo fremder klangen. Es wiederholte sich das gleiche, was sich mit den Büchern ereignete: Klims Wiedergabe war ausführlich und genau, aber die Leuchtkraft war verschwunden, während Makarow auch das Fremde zur rechten Zeit und lebendig zu erzählen wußte.
Einmal besuchte er mit Makarow und Lida das Konzert eines Pianisten. Aus dem Portal des Gouverneurpalais geleiteten zwei Stutzer feierlich die unförmig dicke, alte Gouverneursgattin am Arm hinaus und hoben sie mit Mühe in die Equipage.
Seufzend sagte Makarow zu Lida:
»Puschkin hat recht: Die beseeligende Aufmerksamkeit der Frauen ist fast das einzige Ziel unserer Anstrengungen.«
Lida lächelte zögernd, vielleicht auch widerwillig. Klim verspürte aufs neue den Stachel des Neides.
Ihn reizten die rätselhaften Beziehungen Lidas zu Makarow. Etwas an ihnen war verdächtig: Makarow, verwöhnt durch die Beachtung der Gymnasiastinnen, nahm Lida gleichwohl mit einem ihm sonst nicht eigenen Ernst aufs Korn, obgleich er für sie den gleichen ironischen Ton hatte wie für seine Verehrerinnen. Lida aber unterstrich offenkundig und zuweilen in recht schroffer Form, daß sie Makarow nicht mochte. Doch gleichzeitig bemerkte Klim, daß ihre gelegentlichen Begegnungen sich häuften. Klim kam sogar auf den Gedanken, daß sie auch den Schriftsteller nur aufsuchten, um einander zu sehen.
In diesem Verdacht bestärkte ihn eine sonderbare Szene im Stadtpark. Er saß mit Lida in einer Allee alter Linden auf der Bank. Die zottige Sonne tauchte ins Chaos bläulicher Wolken und entzündete ihre wuchtige Pracht mit blutigem Feuer. Auf dem Fluß schaukelten kupferrote Reflexe, rötete sich der Rauch der Fabrik jenseits des Flusses, entflammten grell in purpurnem Gold die Scheiben des Eiskiosk. Ein herbstlich wehmütiger Schauer liebkoste Samgins Wangen.
Klim fühlte sich bedrückt und innerlich aufgewühlt. Der farbensatte Fluß gemahnte ihn an Boris' Tod, in seiner Erinnerung tönte hartnäckig:
»War denn ein Junge da? Vielleicht war gar kein Junge da?«
Es drängte ihn, Lida etwas Bedeutendes und Angenehmes zu sagen. Er versuchte es schon einige Male, aber es gelang ihm nicht, das Mädchen seiner tiefen Nachdenklichkeit zu entreißen. Ihre schwarzen Augen sahen unverwandt auf den Fluß und die flammenden Wolken. Klim erinnerte sich plötzlich an eine Legende, die ihm Makarow erzählt hatte.
»Weißt du«, fragte er, »Clemens von Alexandrien behauptete, daß die Engel, wenn sie vom Himmel herabsteigen, Liebesabenteuer mit den Töchtern der Menschen unterhalten.«
Lida sagte, ohne den Blick von der Ferne loszureißen, gleichgültig und leise:
»Das Kompliment eines Heiligen ist nicht viel wert, denke ich.«
Ihre Gleichgültigkeit verwirrte Klim. Er verstummte und grübelte über den Grund nach, weshalb dieses gar nicht hübsche, launenhafte Mädchen ihn so oft aus der Fassung brachte. Sie tat nichts als ihn irritieren.
Plötzlich erschien Makarow in seinem vertragenen Mantel und abgetretenen Schuhen, die Mütze in den Nacken geschoben. Er sah aus wie einer, der soeben irgendwo entlaufen ist und nicht mehr weiterkann, und dem jetzt alles gleich ist.
»Er verläßt sich auf seine freche Visage«, dachte Klim.
Makarow reichte dem Kameraden stumm die Hand, fuchtelte in der Luft herum und grüßte Lida unerwartet, aber nicht komisch, indem er militärisch zwei Finger an den Mützenschirm legte. Dann rauchte er sich eine Zigarette an, nickte in die Richtung der Feuersbrunst des Sonnenuntergangs und fragte Lida:
»Schön, wie?«
»Etwas ganz Gewöhnliches«, entgegnete sie, stand auf, sagte: »Ich gehe zu Alina«, und verließ die beiden. Mit ihrem federnden Gang entfernte sie sich zwanzig Schritte. Makarow sagte leise:
»Wie zierlich sie ist! Eine Nadel. Übrigens ein seltsamer Name – Warawka.«
Unverhofft wandte Lida sich schroff um und setzte sich wieder neben Klim.
»Ich hab es mir überlegt.«
Makarow schob seine Mütze zurecht, lächelte ironisch und beugte den Rücken vor.
Sogleich spielte sich etwas ab, was Klim schmerzlich erstaunen ließ. Makarow und Lida sprachen aufeinander ein, als hätten sie sich bitter erzürnt und seien froh über die Gelegenheit, sich noch einmal zu zanken. Zornig musterten sie einander und wählten ihre Worte ohne ihren Wunsch, einander zu verletzen und zu kränken, zu verheimlichen.
»Schön ist, was mir gefällt«, sagte Lida schnippisch, und Makarow widersprach ironisch.
»Was Sie sagen? Ist das nicht ein bißchen wenig?«
»Vollkommen genug, um schön zu sein.«
Zwischen ihnen eingeklemmt, bemerkte Klim:
»Spencer definiert die Schönheit...«
Aber man hörte ihn nicht. Sie fielen einander ins Wort und stießen ihn dabei hin und her. Makarow nahm seine Mütze ab und stieß Klim mit ihrem Schirm zweimal schmerzhaft gegen das Knie. Seine zweifarbigen widerspenstigen Haare sträubten sich und verliehen seinem höckernasigen Gesicht einen fremden, beinahe raubtierhaften Ausdruck. Lida, die fortwährend am Ärmel von Klims Mantel zerrte, fletschte die Zähne zu einem argen Lächeln. Auf ihren Wangen leuchteten rote Flecke auf, ihre Ohren färbten sich tief, ihre Hände zitterten. Nie hatte Klim sie so böse gesehen.
Er sah sich in der demütigen Lage eines Menschen, der nicht mitzählt. Einige Male war er im Begriff, aufzustehen und sich zu entfernen, blieb aber doch und hörte verwundert Lida zu. Sie liebte Bücher nicht. Woher wußte sie, wovon sie sprach? Sie war überhaupt nicht gesprächig und ging Diskussionen aus dem Wege. Einzig mit der üppigen Schönheit Alina Telepnew und vielleicht noch mit Ljuba Somow unterhielt sie sich ganze Stunden, indem sie ihnen leise und mit Ekel im Gesicht etwas sehr Geheimnisvolles mitteilte. Für die Gymnasiasten empfand sie gleichfalls Widerwillen und suchte es nicht zu verheimlichen. Klim hatte den Eindruck, daß sie sich mindestens zehn Jahre älter als ihre Alterskameraden fühlte. Mit Makarow jedoch, der, nach Klims Ansicht, unverschämt gegen sie war, stritt sie nun mit einer Erbitterung, die nicht weit von Jähzorn entfernt war, so wie man mit einem Menschen streitet, den niederzuringen und zu demütigen Ehrensache ist.