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Meist spielten die Kinder Zirkus. Als Zirkusarena diente der Tisch, unterm Tisch befanden sich die Stallungen. Zirkus war das Lieblingsspiel von Boris, er war Direktor und Dresseur der Pferde. Sein neuer Freund Igor Turobojew übernahm die Rolle des Akrobaten und des Löwen, Dmitri Samgin stellte den Clown vor, die Schwestern Somow und Alina einen Panther, eine Hyäne und eine Löwin, während Lida Warawka die Rolle der Tierbändigerin spielte. Die Raubtiere taten gewissenhaft und ernst ihre Pflicht, schnappten nach Lidas Rock und Beinen und versuchten, sie zu Boden zu werfen und aufzufressen. Boris brüllte wild:

»Die Ferkel sollen nicht quieken! Lidka, schlag sie stärker!«

Klim wurde gewöhnlich das erniedrigende Amt des Stallknechts aufgezwungen. Er hatte die Pferde und Bestien unter dem Tisch hervorzuholen und argwöhnte, man habe ihm dieses Amt absichtlich zugeteilt, um ihn zu demütigen. Überhaupt mißfiel ihm das Zirkusspielen wie alle Spiele, die mit vielem Geschrei verbunden waren und deren man schnell überdrüssig wurde. Er verzichtete bald auf die Teilnahme am Spiel und zog sich ins »Publikum« zurück, das heißt, auf das Sofa, wo Pawla und die Krankenschwester saßen. Boris knurrte:

»Ach, der launenhafte Kerl! Pawla, hol' Dronow, mag er sich zum Teufel scheren.«

Vom Sofa aus verfolgte Klim das Spiel, aber mehr als die Kinder beschäftigte ihn die Mutter Warawka. In einem Zimmer, grell beleuchtet von einer Hängelampe, lag mit aufgerichtetem Oberkörper zwischen einem Berg Kissen – wie in einer Schneegrube – eine schwarzhaarige Frau mit einer großen Nase und ungeheuren Augen im dunklen Gesicht. Der zottelhaarige Kopf der Frau erinnerte von weitem an eine knorrige, verkohlte, aber noch schwelende Baumwurzel. Glafira Issajewna rauchte unaufhörlich dicke, gelbe Zigaretten, mächtige Rauchwolken quollen ihr aus Mund und Nasenlöchern, und es schien, als ob auch die Augen rauchten.

»Klim!« rief sie mit Männerstimme. Klim fürchtete sie. Er näherte sich ihr ängstlich, machte einen Kratzfuß, neigte den Kopf und blieb zwei Schritte vom Bett entfernt stehen, damit der dunkle Arm der Frau ihn nicht erreichte.

»Nun, wie geht es zu Hause?« fragte sie und stieß mit der Faust in die Kissen. »Was macht die Mutter? Im Theater? Warawka ist bei euch? Aha.«

Das »Aha« sprach sie wie eine Drohung aus und stieß den Knaben mit dem bohrenden Blick ihrer schwarzen Augen gleichsam von sich.

»Du bist schlau«, sagte sie. »Man lobt dich nicht umsonst. Du bist schlau. Nein, ich gebe dir Lida nicht.«

Im großen Zimmer brüllte und trampelte Boris.

»Das Orchester! Mama, das Orchester!«

Glafira Issajewna nahm eine Gitarre oder ein anderes Instrument, das einer Ente mit langem, häßlich gerecktem Hals glich, zur Hand. Jammervoll ertönten die Saiten. Klim fand diese Musik böse wie alles, was Glafira Warawka tat. Zuweilen begann sie unvermutet mit tiefer Stimme zu singen – durch die Nase und ebenfalls erbost. Die Texte ihrer Lieder waren seltsam zerstückelt, zusammenhanglos, und dieser heulende Gesang machte das Zimmer noch düsterer und öder. Die Kinder drängten sich auf dem Sofa zusammen und hörten stumm und ergeben zu. Aber Lida flüsterte schuldbewußt:

»Sie kann besser, aber heute ist sie nicht bei Stimme.«

Und sagte sehr sanft:

»Du bist heute nicht bei Stimme, Mama?«

Die Antwort der Mutter war ein undeutliches Knurren.

»Hört ihr?« sagte Lida, »sie ist nicht bei Stimme.«

Klim dachte, wenn diese Frau gesund würde, würde sie etwas Entsetzliches begehen. Doch Doktor Somow beruhigte ihn, er fragte den Doktor:

»Wird Glafira Issajewna bald aufstehen?«

»Zusammen mit allen – am Tage des Gerichts«, antwortete träge Doktor Somow.

Wenn Doktor Somow etwas Schlimmes und Düsteres sagte, glaubte Klim ihm.

Wenn die Kinder zu sehr lärmten und trampelten, kam von unten, von den Samgins, der Vater Warawka herauf und schrie in die Tür:

»Ruhe, ihr Wölfe! Das ist ja nicht zum Aushalten! Wera Petrowna hat Angst, daß die Decke einstürzt.«

»Entern!« kommandierte Boris. Alle stürzten auf seinen Vater los und kletterten ihm auf den Rücken, auf die Schultern und auf den Nacken.

»Sitzt ihr gut?« fragte er.

»Fertig!«

Warawka nahm den Kindern ihr Ehrenwort ab, daß sie ihn nicht kitzeln würden und rannte alsdann im Trab rund um den Tisch, wobei er derartig stampfte, daß das Geschirr im Büfett rasselte, und die Kristallzapfen der Lampe jammervoll klirrten.

»Putz ihn weg!« schrie Boris, und nun begann der allerschönste Augenblick des Spiels: Warawka wurde gekitzelt. Er brüllte, quiekte, lachte, seine winzigen scharfen Äuglein traten angstvoll aus den Höhlen. Eins nach dem andern riß er sich die Kinder vom Körper und schleuderte sie auf das Sofa. Sie sprangen von neuem auf ihn herauf und bohrten ihm die Finger zwischen die Rippen und die Knie.

Klim beteiligte sich nie an diesem rohen und gefahrvollen Spiel. Er hielt sich abseits, lachte und hörte die tiefen Schreie Glafiras:

»So ist es recht! Schlagt ihn tüchtig!«

»Ich ergebe mich!« brüllte Warawka und warf sich aufs Sofa, seine Feinde unter sich quetschend. Man auferlegte ihm ein Lösegeld in Gestalt von Törtchen und Konfekt, Lida kämmte sein zerzaustes Haar und glättete, ihren Finger anfeuchtend, die zottigen Brauen des Vaters, der, nachdem er bis zur Erschöpfung gelacht hatte, jetzt komisch schnaufte, sich mit dem Tuch das schwitzende Gesicht abwischte und kläglich beteuerte:

»Nein, ihr seid keine ehrlichen Leute!«

Hierauf begab er sich ins Zimmer seiner Frau. Sie zischte ihn schon von weitem an, zog die Lippen schief und ihre Augen, die sich im Zorn weiteten, wurden immer tiefer und schrecklicher. Warawka murmelte gezwungen:

»Was ist los? Das sind doch Einbildungen. Hör auf. Schon gut. Ich bin doch kein Greis.«

Das Wörtchen »Einbildungen« war Klim vertraut und verschärfte seine Abneigung gegen die kranke Frau. Ja, natürlich bildete sie sich etwas Böses ein, Klim beobachtete, daß Glafira nachlässig und unfreundlich und oft sogar grob zu den Kindern war. Man konnte glauben, daß sie sich für Boris und Lida nur dann interessierte, wenn sie gefährliche Kunststücke vollführten und riskierten, sich Arme und Beine zu brechen. In solchen Augenblicken heftete sie ihre Augen auf die Kinder, furchte die dichten Brauen, preßte die violetten Lippen fest aufeinander, kreuzte die Arme und krallte die Finger in ihre knochigen Schultern. Klim war überzeugt, wenn die Kinder gefallen wären und sich verletzt hätten, wäre ihre Mutter in jubelndes Gelächter ausgebrochen.

Boris lief in zerrissenen Hemden, struppig und ungewaschen umher, Lida war schlechter gekleidet als die Somows, obgleich ihr Vater wohlhabender war als der Doktor. Klim schätzte die Freundschaft des Mädchens immer höher, es gefiel ihm, schweigend ihrem lieben Geplauder zu lauschen und seine Pflicht, gescheite und unkindliche Dinge zu sagen, zu vergessen.

Doch sobald der schöne Stutzer Igor Turobojew erschien, geputzt, wie ein Bild aus einem Modejournal, unangenehm höflich, doch ebenso gewandt und kühn wie Boris, verließ Lida Klim und wich, ein gehorsames Hündchen, dem neuen Kameraden nicht von der Seite. Das war unbegreiflich, um so mehr, als Boris und Turobojew sich gleich am ersten Tag ihrer Bekanntschaft erzürnt und einige Tage später so grausam geprügelt hatten, daß Blut und Tränen flossen. Klim sah zum erstenmal, wie erbittert Knaben raufen können. Er beobachtete ihre wutentstellten Gesichter, das nackt hervortretende Bestreben, einander so schmerzhaft wie möglich zu schlagen, er hörte ihre schrillen Schreie, ihr Keuchen, – und all das schüchterte ihn so sehr ein, daß er ihnen noch mehrere Tage nach dem Kampf ängstlich auswich und davon durchdrungen war, er, der sich nicht schlagen konnte, sei ein ganz besonderer Junge, Igor und Boris wurden schnell Freunde, wenngleich sie sich beständig zankten und jeder, ohne sich selbst zu schonen, dem anderen eigensinnig zu beweisen suchte, daß er mutiger und stärker sei als der Freund. Boris rannte wild aufgeregt umher, etwas Krampfhaftes ergriff Besitz von ihm, als haßte er, in allen Spielen Sieger zu sein, und fürchte, daß er es nicht schaffen werde.