Oh, dachte sie, was für ein feiner alter Mann! Über seinem Verhalten, seinen Worten, dem Tweedanzug und dem schäbigen Cape schwebte wie der Geruch türkischen Tabaks die Macht und Rechtschaffenheit des ehemaligen britischen Empires.
»Nun, Sir …«, unterbrach ihn Noakes vorwurfsvoll – oder war es Woollett?
»Ich würde sagen, dass die Polizei«, fuhr der alte Mann unschuldig und heiter fort, »weitgehend davon überzeugt zu sein scheint, dass Sie es waren, der Mr Shane bei Brunos Abtransport überraschte und ermordete. Ich hingegen glaube, dass es jemand anders war, ein Mann …«
Jetzt wanderten die gierigen Augen des Alten zu Reggies schwarzen Straßenschuhen, die Mrs Panicker am Morgen, als der Tag noch nichts Ungewöhnliches verhieß, auf Hochglanz poliert hatte.
»… ein Mann mit Füßen, die ein ganzes Stück kleiner sind als die Ihren.«
Reggies Miene verrutschte – die Züge dieses enttäuschten Gesichts, kniescheibenglatt. Reglos bis auf die Augenbraue, die nach oben, und den Mundwinkel, der nach unten gezogen wurde. Jetzt fiel es kurz hinunter, und Reggie grinste, wie ein Junge. Er holte seine gewaltigen Riesenfüße unter dem Tisch hervor, streckte sie vor sich aus und bestaunte wie zum ersten Mal ihre eindrucksvolle Größe.
»Das habe ich den beiden doch die ganze Zeit gesagt!«, rief er. »Sicher, klar, noch ein Tag und ich hätte den Vogel verkauft, Fatty bezahlt, und die Sache wäre geritzt gewesen. Aber ursprünglich war die Idee nicht von mir. Parkins hätten sie sich vorknöpfen sollen. Es war seine Brieftasche, in der ich Blacks Karte gefunden habe.«
»Parkins?« Der alte Mann sah die Polizisten an, die mit den Achseln zuckten, dann Mrs Panicker.
»Mein ältester Mieter«, sagte sie. »Im März waren es zwei Jahre.« Ihr wurde klar, dass sie Mr Simon Parkins nie wirklich getraut hatte, obwohl er dem Anschein nach nichts Anstößiges oder Zwielichtiges besaß. Jeden Morgen stand er zur selben Stunde auf, begab sich in die Bibliothek von Gabriel Park, um Schriftrollen oder Frottagen, oder über was auch immer er bis weit nach Anbruch der Nacht brütete, zu studieren, dann kehrte er zu seinem Zimmer, seiner Lampe und seinem aufgewärmten Abendessen zurück.
»Haben Sie demnach die Angewohnheit, den Inhalt von Mr Parkins’ Brieftasche zu untersuchen, Reggie?«, fragte Noakes oder Woollett kumpelhaft, aber ein wenig zu verbissen, als fürchte er, ihm entschwinde die Grundlage, Reggie einen Mord anzuhängen, und hoffe stattdessen, ihm etwas anderes anzuhängen, ehe es zu spät war.
Mit hörbarem Knacken drehte der alte Mann seinen Kopf den beiden Polizisten zu.
»Ich möchte auch die beiden Herren bitten zu beachten, dass meine Tage gezählt sind«, sagte er. »Stellen Sie bitte keine überflüssigen Fragen. Interessiert Parkins sich für den Vogel?«
Die Frage war an Mrs Panicker gerichtet.
»Alle interessierten sich für Bruno«, sagte sie und fragte sich, warum sie über den Papagei in der Vergangenheitsform sprach. »Alle, außer dem armen Mr Shane. Ist das nicht sonderbar?«
»Sicher interessiert sich Parkins für ihn«, sagte Reggie. Die Widerspenstigkeit, mit der er den alten Mann anfangs behandelt hatte, war verflogen. »Er hat ständig was in sein kleines Notizbuch gekritzelt. Jedes Mal, wenn der Vogel mit diesen verdammten Zahlen anfing.«
Zum ersten Mal seit dem Eintreffen auf der Polizeiwache wirkte der alte Mann ernsthaft an dem interessiert, was vor sich ging. Er erhob sich ohne das Gestöhne und Gemurmel, das diese Tätigkeit bisher begleitet hatte.
»Die Zahlen!« Er legte die Handflächen aneinander, eine Geste zwischen Gebet und Applaus. »Ja! Das gefällt mir! Der Vogel war es gewohnt, Zahlen zu wiederholen.«
»Den ganzen verfluchten Tag lang.«
»Endlose Zahlenreihen«, sagte Mrs Panicker und überhörte sogar den Kraftausdruck, obgleich einer der Polizisten dabei zusammenzuckte. Nun fiel ihr wieder ein, dass sie tatsächlich viele Male gesehen hatte, wie Parkins ein kleines Notizbuch hervorgezogen und die numerischen Arien niedergeschrieben hatte, die Brunos schwarzer Schnabel mit unheimlich uhrwerkartigem Schnalzen hervorbrachte. »Von eins bis neun, immer wieder, ohne bestimmte Reihenfolge.«
»Und alles auf Deutsch«, sagte Reggie.
»Und dieser Mr Parkins, in welchem Beruf ist er momentan tätig? Ist er Handelsreisender wie Richard Shane?«
»Er ist Architekturhistoriker«, sagte sie und bemerkte dabei, dass weder Noakes noch Woollett sich die Mühe machte, irgendetwas schriftlich festzuhalten. Wenn man die beiden so betrachtete, schwitzende Kolosse in blauen Wollmänteln, konnte man meinen, sie würden nicht einmal zuhören, von Mitdenken ganz zu schweigen. Vielleicht fanden sie es zu heiß zum Denken. Der eifrige kleine Inspector aus London, dieser Bellows, tat ihr Leid. Kein Wunder, dass er den alten Mann um Hilfe gebeten hatte. »Er arbeitet an einer Monographie über unsere Kirche.«
»Aber gesehen wird er dort nie«, sagte Reggie. »Schon gar nicht sonntags.«
Der alte Mann schaute sie an, erwartete eine Bestätigung.
»Momentan erstellt er ein Gutachten über einige sehr alte Dorfurkunden, die in der Bibliothek von Gabriel Park aufbewahrt werden«, sagte sie. »Ich verstehe leider nicht sehr viel davon. Er versucht, die Höhe des Kirchturms im Mittelalter zu berechnen. Es ist alles sehr … er hat es mir einmal gezeigt. Es sieht mehr wie Mathematik als wie Architektur aus.«
Langsam ließ sich der alte Mann wieder auf den Stuhl sinken, jetzt wirkte er völlig gedankenverloren. Nicht länger schaute er Mrs Panicker oder Reggie oder, so weit sie es beurteilen konnte, irgendetwas anderes im Raum an. Seine Pfeife war längst erloschen, er entzündete sie erneut mit einer Reihe mechanischer Handgriffe, scheinbar ohne es überhaupt wahrzunehmen. Die vier Menschen, die das Zimmer mit ihm teilten, standen oder saßen herum und warteten in beachtlicher Einmütigkeit darauf, dass er zu irgendeinem Schluss kam. Nach einer vollen Minute kräftigen Schmauchens sagte er klar und deutlich: »Parkins«, dann hielt er eine kleine gemurmelte Rede, die sie nicht verstand. Er schien sich selbst eine Predigt zu halten. Noch einmal hievte er sich auf die Füße, dann steuerte er auf die Tür des Wartezimmers zu, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Es war, als hätte er die anderen vollkommen vergessen.
»Was ist mit mir?«, rief Reggie. »Sagen Sie denen, sie sollen mich freilassen, Sie alter Spinner!«
»Reggie!« Mrs Panicker war entsetzt. Bisher hatte er nichts von sich gegeben, was auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Ausdruck des Bedauerns über das Schicksal von Mr Shane hatte. Ohne sich im Geringsten zu schämen, hatte er sein Vorhaben gestanden, einem verwaisten kleinen Judenflüchtling den Vogel zu stehlen, und Mr Parkins’ Brieftasche durchsucht zu haben. Und nun saß er da und beleidigte den einzig wirklich wertvollen Verbündeten, den er, von ihr selbst abgesehen, je gehabt hatte. »Um Himmels willen. Wenn du nicht einmal jetzt siehst, in welches Schlamassel du dich gebracht hast …«
An der Tür drehte sich der alte Mann mit einem verärgerten kleinen Lächeln um.
»Ihre Mutter hat Recht«, sagte er. »Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es nur sehr wenige Beweise, die Sie entlasten, aber sehr viele Indizien, die auf Sie zu verweisen scheinen. Diese beiden Herren hier« – er nickte in Richtung Noakes und Woollett – »würden ein Pflichtversäumnis begehen, wenn sie Sie freiließen. Kurz gesagt, Sie scheinen durchaus schuldig zu sein, Mr Shane umgebracht zu haben.«
Dann setzte er seine Jagdmütze auf und ging, mit einem letzten Nicken in Richtung von Mrs Panicker, nach draußen.