»Wie hoch ist der Kirchturm zur Zeit?«, fragte der alte Mann.
»Vierzig Meter und achtunddreißig Zentimeter«, erwiderte Parkins wie aus der Pistole geschossen. Er grinste. Mr Sackett klopfte die Asche von seiner Zigarette.
»Und im Jahre 1312?«
»Ich würde sagen, fünf Meter weniger, aber das muss noch nachgewiesen werden.«
»Eine komplizierte Frage?«
»Furchtbar«, sagte Parkins.
»Und zweifellos von großer Wichtigkeit.«
»Leider nur für Bücherwürmer wie mich.«
»Ich nehme an, Bruno konnte Ihnen entscheidende Hinweise geben.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Die Zahlen«, sagte Inspector Bellows. »Sie haben sie aufmerksam verfolgt, haben sie aufgeschrieben.«
Das Zögern war kurz, aber der alte Mann war von den besten Lügnern seiner Generation angelogen worden, zu denen er sich selbst in aller Bescheidenheit ebenfalls zählte. Dass er die vergangenen dreißig Jahre so gut wie ausschließlich in der Gesellschaft von Lebewesen verbracht hatte, deren Ehrlichkeit außer Frage stand, schien keine nachteilige Auswirkung auf die Empfindlichkeit seiner Wahrnehmung gehabt zu haben. Parkins log sich um Kopf und Kragen.
»Nur zum Zeitvertreib«, sagte Parkins. »Es steckte nichts dahinter. Es war nur dummes Zeug.«
Im Kopf des alten Mannes begann sich ein zartes, unerbittliches Geflecht von Schlussfolgerungen auszubilden, wie ein Kristall; erschaudernd fing sich darin das Licht in Geistesblitzen und Thesen. Es war die größte Freude, die das Leben zu bieten hatte, dieses deduktive Kristallisieren, dieses Delirium des Rätselns. Schrecklich lange hatte er ohne dieses Hochgefühl auskommen müssen.
»Was weiß Bruno?«, fragte er. »Welche Zahlen lehrte man ihn zu wiederholen?«
»Es tut mir Leid, aber mit derartigen Fragen befassen wir uns hier nicht«, sagte Mr Sackett ruhig.
»Habe ich das so zu verstehen«, sagte der alte Mann, »dass Mr Parkins ein Angestellter oder besser ein Mitglied Ihrer Einrichtung ist, Mr Sackett? Gibt es einen wesentlichen Zusammenhang zwischen normannischer Kirchenbaukunst und dem Melken von Mastrindern, der sich mir entzieht?«
Der Inspector versuchte tapfer, ein Lachen mit einem Husten zu tarnen. Mr Sackett runzelte die Stirn.
»Detective Inspector Bellows«, sagte Sackett, und seine Stimme war noch weicher als zuvor. »Ob ich wohl kurz unter vier Augen mit Ihnen sprechen dürfte?«
Bellows nickte, die beiden erhoben sich und begaben sich auf den Korridor. Kurz bevor Mr Sackett den Raum verließ, drehte er sich um und warf Mr Parkins einen warnenden Blick zu. Parkins errötete.
»Ich nehme an, man wird mich gleich hinausweisen«, sagte der alte Mann.
Aber das Lichtspiel war auf die Gläser von Mr Parkins’ Brille zurückgekehrt. Er lächelte dünn. Der Wasserhahn tropfte ins Becken, eine Zigarette in einem erstickten Aschenbecher brannte bis auf den Filter ab und erfüllte den Raum mit dem beißenden Geruch von Haar. Kurz darauf kam der Inspector zurück, allein.
»Vielen Dank, Mr Parkins. Sie können gehen«, sagte er. Dann wandte er sich mit einem entschuldigenden Blick an den alten Mann, und in seiner Stimme hallte auf gewisse Weise das Echo von Mr Sacketts scharfem Kommandoton nach. »Wir sind hier fertig.«
Eine Stunde später wurde Reggie Panicker auf freien Fuß gesetzt, alle Anklagepunkte wurden fallen gelassen, und in der Gerichtsverhandlung zur Feststellung der Todesursache am darauf folgenden Tag wurde Richard Woolsey Shanes Tod als Unfall deklariert, der nicht näher erläutert wurde.
7
Die Bienen sprachen zu ihm, auf ihre Weise. Während andere Menschen in ihrem Summen ein nichts sagendes Brummen, einen inhaltsleeren Schall hörten, war es für ihn ein abwechslungsreicher Bericht, viel sagend, moduliert, veränderlich und so unverwechselbar wie die einzelnen Steine eines grauen Kieselstrandes. Der alte Mann tastete sich an diesem Geräusch entlang, umsorgte seine Bienenstöcke wie ein Strandgutjäger, vornübergebeugt und staunend. Natürlich bedeutete der Gesang nichts – ganz so verrückt war er auch wieder nicht –, aber das hieß noch lange nicht, dass er bedeutungslos war. Es war der Gesang einer Stadt, die so weit entfernt von London war wie London vom Himmel oder von Rangun, einer Stadt, in der alle genau das taten, was sie tun sollten, so wie es von ihren ältesten, ehrwürdigsten Vorfahren bestimmt war. Eine Stadt, in der niemals Juwelen, Goldbarren, Kreditbriefe oder Geheimpläne der Marine gestohlen wurden, in der kein lang verschollener Zweitgeborener oder nichtsnutziger erster Ehegatte mit gerissenen Provinzmethoden aus dem Wawoora-Tal oder vom Witwatersrand zurückkehrte, um einen alten, reichen Verwandten zu Tode zu erschrecken. Eine Stadt ohne Messerstechereien, Hinrichtungen, Schlägereien, Schießereien; es gab so gut wie keine Gewalt, von dem einen oder anderen Königinnenmord mal abgesehen. Jeder Tod in der Stadt der Bienen war bereits vor Zehn Millionen Jahren bestimmt und festgelegt worden; kaum geschehen, wurde jeder Tod tüchtig und zügig in Leben für das Volk verwandelt.
Ein Mann, der sich seinen Lebensunterhalt zwischen Mördern und Raufbolden verdient hatte, würde eine ebensolche Stadt wählen, um dort den Rest seiner Tage zu verbringen. Er würde ihrem Lied lauschen wie ein junger Mann, der gerade in Paris, New York oder Rom (oder sogar, wie der alte Mann sich noch schwach erinnerte, in London) eingetroffen ist und auf einem Balkon oder am Fenster eines möblierten Zimmers oder auf dem Dach eines Mietshauses steht, dem Brummen des Verkehrs und den Fanfaren der Hupen lauscht und meint, die Musik seines eigenen, geheimnisvollen Schicksals zu hören.
Die Erzählungen der Bienen und das Rasseln seines Atems unter dem Zelt seines Schutzschleiers verhinderte, dass er die lange schwarze Limousine vernahm, die einen Tag nach seinem Gespräch mit Parkins vorfuhr, so wie er bereits versäumt hatte, sie zu erwarten. Erst als sich der Besucher aus London drei Meter hinter ihm befand, drehte sich der alte Mann um. Leichte Beute, dachte er, empört über sich selbst. Was für ein Glück, dass all seine Feinde tot waren.
Der Mann aus London war wie ein Kabinettsminister gekleidet, bewegte sich jedoch wie ein unehrenhaft entlassener Soldat. Breitschultrig, hellhaarig, blinzelte er, als blicke er gegen eine feindselige Sonne, und der linke Fuß in dem edlen Straßenschuh von Cleverley bewegte sich mit einem sonderbaren Scharren, als der Fremde sich den Bienenstöcken näherte. Sicher war der Besucher alt genug, um eine große Zahl von Feinden zu haben, aber noch nicht alt genug, um sie alle überlebt zu haben. Sein Chauffeur wartete neben dem Wagen mit dem Londoner Kennzeichen und den für die Verdunkelung schlitzförmig verklebten Scheinwerfern, die das von der Sonne bedrängte Blinzeln des Beifahrers nachahmten.
»Werden Sie manchmal gestochen?«, fragte der Mann aus London.
»Ständig.«
»Tut es weh?«
Der alte Mann hob das Netz, damit er kein schönes, schlichtes Ja auf eine derart dämliche Frage verschwenden musste. Der Mann aus London verbarg den Anflug eines Grinsens in seinem ergrauenden blonden Schnurrbart.
»Wahrscheinlich schon«, sagte er. »Sie mögen Honig, was?«
»Nicht besonders, nein«, sagte der alte Mann.
Der Mann aus London schien sich über diese Antwort ein wenig zu wundern, doch dann nickte er und gestand, er selbst sei auch kein Liebhaber von Honig.