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»Wissen Sie, wer ich bin?«, fragte er nach einer Weile.

»Nur zu welcher Gattung und Art Sie gehören«, sagte der alte Mann. Er hob die Hand zum Schleier, als wolle er ihn wieder herunterziehen. Dann nahm er die ganze Kopfbedeckung ab und klemmte sie sich unter den Arm. »Kommen Sie besser mit rein.«

Der Mann aus London wählte den Stuhl am Fenster und versuchte unauffällig, zwei, drei Zentimeter frische Luft ins Zimmer zu lassen. Es war der unbequemste Stuhl im Haus, er vereinte die schlimmsten Eigenschaften eines Sägebocks und einer Kirchenbank, aber über den Geruch im Raum machte sich der alte Mann keine Illusionen. Nicht dass er ihn wahrnahm – genau so wenig wie ein Bär oder in dem Fall ein Drache den Gestank in seiner düstren Höhle bemerkt oder sich daran gestört hätte.

»Ich kann Ihnen eine Tasse Tee anbieten«, sagte er, obwohl er gar nicht sicher war, dass er das tatsächlich konnte. »Ich glaube, mein Bestand stammt aus den frühen Dreißigern. Ich weiß nicht, Colonel, ob Teeblätter mit der Zeit bitter werden oder völlig ihren Geschmack verlieren, bin aber einigermaßen überzeugt, dass meine nicht mehr zu gebrauchen sind. Liege ich da richtig? Sie sind Colonel?«

»Threadneedle.«

»Colonel Threadneedle. Kavallerie?«

»Berittene Infanterie. Lennox Highlanders.«

»Ah. Also Whisky.«

Der Vorschlag wurde in dem Geist feindseliger guter Laune, der bezeichnend für seinen bisherigen Umgang mit dem Nachrichtenoffizier gewesen war, gemacht und angenommen, doch quälte den alten Mann plötzlich die Angst, ob der Whisky, den er auf so ritterliche Weise angeboten hatte, nicht schon vor Jahren in einem anderen Wohnsitz ausgetrunken worden, ob er vielleicht verdunstet oder zu einer teerigen Paste geworden war, ob es vielleicht gar kein Whisky war oder ob er je existiert hatte. Fünf Minuten Höhlenforschung in den niederen Regionen des Eckschranks förderten eine Flasche Glenmorangie ans Tageslicht, bedeckt von einer Staubschicht, die selbst einen Schliemann abgestoßen hätte. Zitternd vor Erleichterung stand der alte Mann da und wischte sich mit dem Strickjackenärmel den Schweiß von der Stirn. Als junger Mann war es für ihn eine positive Entwicklung gewesen, wenn er von einer Ermittlung zurückgepfiffen wurde, es war ein Meilenstein auf dem Weg zur Lösung und, mehr noch, ein Ansporn gewesen.

»Gefunden!«, rief er.

Er goss eine großzügige Menge in ein einigermaßen sauberes Glas und reichte es dem Mann aus London, dann ließ er sich in seinen Sessel sinken. So wie sich in einem Wollschal der Geruch brennender Blätter festsetzt, hatte er im Mund noch eine Erinnerung an Scotch. Aber die Stützen, die ihn zusammenhielten, waren so spärlich und so brüchig, dass er Angst hatte, sie zum Wanken zu bringen.

»Dieses Land«, hob der Colonel an. »Seinen Feinden vergibt es zu schnell und seine alten Freunde vergisst es zu schnell.« Tief sog er den Dunst der fünf Zentimeter Scotch ein, als wolle er seine Nasenlöcher ausräuchern, dann leerte er das Glas zur Hälfte. Er stöhnte, vielleicht unfreiwillig, und gab einen versonnenen Seufzer der Zufriedenheit von sich: Alles andere behandelten sie so grausam, die dahinfliegenden Jahre. »So sehe ich das wenigstens.«

»Ich hoffe, im Laufe der Jahre hier und dort ein wenig hilfreich gewesen zu sein.«

»Man war der Meinung«, begann der Colonel, »Sie hätten ein Anrecht auf eine Erklärung.«

»Das ist sehr freundlich.«

»Der Junge ist der Sohn eines gewissen Dr. Julius Steinman, ein Arzt aus Berlin. Der Name sagt mir nichts, aber in psychiatrischen Kreisen …« Er zog ein Gesicht, um seine Meinung von Psychiatern und ihrer Weltsicht kundzutun. Den alten Mann erfreute das Vorurteil, er teilte es jedoch nicht; als Ärzte ließen Psychiater zweifellos etwas zu wünschen übrig, oft aber gaben sie gute Ermittler ab. »Scheinbar behandelte der Mann erfolgreich gewisse Schlafstörungen. Gott weiß, wie. Mit Drogen, möchte ich wetten. Jedenfalls blieb dem Jungen und seinen Eltern 1938 die Deportation erspart. Wurden im letzten Moment aus dem Zug geholt, schätze ich.«

»Da hatte jemand Albträume«, sagte der alte Mann.

»Wenig verwunderlich.«

»Ein Mensch, der mit Chiffren und Codes zu tun hat.«

»Zumindest mit etwas höchst Geheimem.« Liebevoll betrachtete der Colonel die verbliebenen zweieinhalb Zentimeter Whisky in seinem Glas, dann sagte er ihnen Lebewohl. »Hielt so lange wie möglich an seinem privaten Judendoktor fest. Und sich damit die schlimmen Träume vom Leib. War mit ihm in einer Art Geheimeinrichtung oder Lager kaserniert. Mit der ganzen Familie. Frau, Kind, Papagei.«

»Wo der Papagei so unauffällig und geschickt, wie man es von seiner Art kennt, begann, die Zahlencodes der Kriegsmarine auswendig zu lernen.«

Der Mann aus London wusste Sarkasmus möglicherweise weniger zu würdigen als schottischen Whisky.

»Man hat sie ihm natürlich beigebracht«, sagte er. »So lautet jedenfalls die Theorie. Dieser Parkins sitzt scheinbar schon seit Monaten dran. Sobald wir davon erfuhren …«

»… versuchten Sie, Reggie Panicker zu bewegen, das Tier zu stehlen und an Mr Black zu verkaufen, der, so nehme ich an, in Ihren Diensten steht.«

»Meines Wissens nicht«, sagte der Mann aus London, und sein Ton enthielt die höfliche Andeutung, dass sein begrenztes Wissen für die Zwecke des alten Mannes durchaus genügte. »Und in Bezug auf den jungen Panicker irren Sie. Damit hatten – wir nichts zu tun.«

»Und Ihnen ist egal, wer Ihren Mr Shane umgebracht hat?«

»Oh nein, ist es uns nicht. Wirklich nicht. Shane war ein feiner Mann. Ein erfahrener Mitarbeiter. Sein Tod ist äußerst beunruhigend, nicht zuletzt aufgrund der Folgerung, dass jemand hergeschickt wurde, um den Vogel zurückzuholen.« Er schien keine Erklärung für notwendig zu halten, wer diesen Jemand geschickt haben mochte. »Vielleicht hält er sich in der Umgebung versteckt. Er könnte ein Schläfer sein, ein Agent, der schon lange unauffällig im Dorf lebt und arbeitet, schon vor dem Krieg. Genauso gut kann er bereits mitten auf der Nordsee auf dem Heimweg sein.«

»Er könnte auch in seinem Arbeitszimmer im Pfarrhaus sitzen und hart an der Predigt für den kommenden Sonntag arbeiten. Eine Predigt, die sich auf das zweite Kapitel Hosea bezieht, Vers eins bis drei.«

»Möglich«, sagte der Mann aus London mit einem trockenen Husten, das als echtes Lachen auszugeben er sich sichtlich bemühte. »Ihr junger Freund, der Inspector, hat sich jetzt an den Vater gehängt.«

»Ja, das liegt nahe.«

»Aber es ist unwahrscheinlich. Der Bursche züchtet Rosen, stimmt’s?«

»Ein verbitterter, enttäuschter, eifersüchtiger Mann tötet jemanden, den er für den Liebhaber seiner Frau hält – das finden Sie unwahrscheinlich. Ein mordender Nazispion, der den Auftrag hat, einen Papagei zu entfuhren, das erscheint Ihnen hingegen …«

»Nun, gut.« Der Colonel spähte in das leere Whiskyglas, und seine Wangen röteten sich, als sei er gekränkt worden. »Es ist nur, wenn wir die Gelegenheit hätten, würden wir es genauso machen, nicht wahr?« Im Körper des Colonels schienen die Streben ein wenig nachgegeben zu haben, doch der alte Mann bezweifelte, dass ein verstaubtes Glas Scotch schuld daran war. Er kannte die Elite des britischen Nachrichtendienstes von den Tagen des »Großen Spiels« bis zum Knall der ersten Schüsse von Mons. Letzten Endes lief ihr Handwerk auf schlichtes Spiegeln hinaus: Umkehrschlüsse, Reflexionen, Echos. Und was man durch einen Spiegel sah, hatte immer etwas Entmutigendes. »Wenn die einen Papagei hätten, der bis zu den Flügelspitzen mit unserem Marinecode voll gestopft wäre, würden wir mit Sicherheit nichts unversucht lassen, ihn zurückzubekommen.« Mit einem Lächeln, das ihn selbst und das Ministerium, in dem er arbeitete, verhöhnte, schaute der Colonel zu dem alten Mann auf. »Oder dafür sorgen, dass er am Spieß gebraten wird.«