Mit einer wehmütigen Geste fegte Mr Panicker Konferenzsaal, Hotel, Restaurant und mehrere Türmchen aus Streichholzschachteln vom Tisch seiner Phantasie. Er war ein ungläubiger Geistlicher mittleren Alters, betrunken und auf der Flucht vor den Trümmern seines Lebens.
»Oh, nein, ich …«, begann Mr Panicker, merkte dann aber, dass er nicht weitersprechen konnte, dass sich seine Kehle zusammenschnürte und drohende Tränen in seinen Augen brannten. Wie Mr Panicker wohl wusste, gab es Zeiten, da war es schon eine Form schwachen Trostes, wenn jemand unseren Kummer auch nur erahnte.
»Es ist wirklich durchaus bemerkenswert, dass ich Ihnen heute Morgen buchstäblich über den Weg gelaufen bin. Denn das Anliegen, das mich nach London führt, ist aufs Engste mit Ihrem Haushalt verbunden, Sir.«
Das war es also. Obwohl die Polizei seinen Sohn entlastet oder zumindest die Ermittlung im Mordfall dieses breitbeinig dasitzenden Handlungsreisenden für Zitzenkneifmaschinen eingestellt hatte, lag noch immer der Schatten des Zweifels auf Mr Panickers Bereitschaft zum Verbrechen. Die Möglichkeit, dass Reggie schuldig sein konnte, beschämte Mr Panicker wie nahezu alles, was auf diese oder jene Art mit seinem Sprössling zu tun hatte. Diesmal aber war seine Scham von dem Wissen durchdrungen, dass der brutale Mord an Richard Shane auf der Straße hinter dem Pfarrhaus im Entwurf wie im Detail die heimlichen Tendenzen seiner dunkelsten Phantasien widerspiegelte. Als Detective Inspector Bellows in der vergangenen Woche vor der Tür gestanden hatte, war die eigentliche Bedeutung seines Besuchs unmissverständlich gewesen, obgleich die Fragen von äußerster Umsichtigkeit gezeugt hatten. Er selbst, Kumbhampoika Thomas Panicker, öffentlicher Verfechter und lebendiges Symbol für Gottes Güte und Unbestechlichkeit, stand unter dem glaubhaften Verdacht, einen Mann getötet zu haben – aus Eifersucht. Und Mr Panicker vermochte einfach nicht das Gefühl abzuschütteln, dass dieser Wunsch – diese Wut, die seine Hände zittern ließ, sobald ein Wort von Shane das unglaubliche Wunder eines Lächelns auf dem Gesicht seiner Frau hervorgerufen hatte – irgendwie aus seinem Herz gekrochen war, wie ein Gas, und das bereits erkrankte Organ seines Sohnes verhängnisvoll vergiftet hatte.
»Ich hatte es so verstanden … Reggie … die Polizei sagte …«
Nun wurde ihm klar, dass der alte Mann ihm kurz zuvor beileibe nicht »über den Weg gelaufen« war. Er, Mr Panicker, war immer noch Gegenstand der Ermittlungen, und jetzt hatte die Polizei offensichtlich einen alten Veteranen aufgeboten, oder aber dieser überspannte Trottel widmete sich, halb senil, selbständig dem Fall.
»Erzählen Sie mal«, sagte der alte Mann, und der staatsanwaltliche Ton in seiner Stimme bestätigte sämtliche Ängste von Mr Panicker. »Haben Sie in letzter Zeit irgendwelche Fremden in der Nähe des Pfarrhauses gesehen oder sogar persönlich getroffen?«
»Fremde? Ich habe …«
»Zum Beispiel einen Burschen aus London, wohl eher ein älterer Mann, vielleicht Jude. Nennt sich Black.«
»Dieser Vogelhändler«, sagte Mr Panicker. »Seine Karte wurde doch in Reggies Tasche gefunden.«
»Ich habe Grund zu der Annahme, dass er Ihrem kleinen Untermieter Linus Steinman vor kurzem einen Besuch abgestattet hat.«
»Einen Besuch abgestattet?« Natürlich bekam der Junge überhaupt keinen Besuch, abgesehen von Martin Kalb. »Nicht, soweit ich …«
»Wie ich von Anfang an vermutete, hatte Mr Black natürlich Kenntnis von Brunos Existenz und seinen bemerkenswerten Fähigkeiten. Sein jüngster Versuch direkter Kontaktaufnahme mit dem kleinen Steinman lässt vermuten, dass Black keine Nachricht von seinen mutmaßlichen Mittelsmännern erhalten hat und daher nichts vom Verschwinden des Vogels wusste. Vielleicht fürchtete er tatsächlich, niemals eine solche Nachricht zu erhalten, und stattete dem Jungen einen heimlichen Besuch ab, um das Geschäft in die Wege zu leiten oder das Tier möglicherweise selbst zu entwenden. Auf jeden Fall beabsichtige ich, Mr Joseph Black von der Club Row ein paar sehr direkte Fragen zu stellen. Sonst werde ich niemals eine endgültige Entscheidung über den Aufenthaltsort des Vogels treffen können.«
»Der Vogel«, wiederholte Mr Panicker und ging vom Gas. Sie näherten sich East Grinstead, wo die Polizei einen Kontrollpunkt eingerichtet hatte; der Verkehr staute sich bereits. Also hatte der alte Mann Recht gehabt, als er vermutete, die militärischen Aktivitäten nähmen zu; die Sicherheitsvorkehrungen waren verstärkt worden. »Sie suchen den Vogel.«
Der alte Mann sah ihn mit erhobener Augenbraue an, als sei etwas an Mr Panicker bedauerlich oder tadelnswert.
»Sie etwa nicht?«, sagte er. »Mir scheint, dass jeder, der die Aufgabe hat, in loco parentis zu handeln, das Verschwinden eines solch geliebten, bemerkenswerten Tieres …«
»Ja, ja, natürlich«, sagte Mr Panicker. »Wir sind alle sehr … der Junge war … untröstlich.«
Tatsächlich war der Vogel in den zwei Wochen seit seinem Verschwinden in Mr Panickers Gedanken nur als gruselige Randfigur der blutrünstigen, grausamen Szenen aufgetaucht, in denen gewaltsame Eifersucht und Rache die Hauptrolle spielten. Szenen, die Mr Panickers Phantasien während des kurzen Aufenthalts des verfluchten Mr Shane im Pfarrhaus geprägt hatten. Denn er war überzeugt, dass Bruno, der Papagei, gestorben war, und zwar eines besonders schauerlichen, gewalttätigen Todes. Auch wenn das Tier, wie die Konsultation des »P«-Bandes der Encyclopedia Britannica dem Pfarrer verraten hatte, aus den tropischen Gefilden Afrikas stammte, war Bruno ein gezähmter, kultivierter Hausvogel. In der freien Natur, in der Hand von Rüpeln, würde ihm sicherlich ein Leid geschehen. Mr Panicker stellte sich die starren Tintenäuglein des Vogels vor, wenn ihm der Hals umgedreht wurde, er sah, wie sein geschundener Körper unter einem Flaum- und Federwirbel in einen Mülleimer oder in den Rinnstein geworfen wurde, sah, wie er von Wieseln in Stücke gerissen wurde oder sich in Telegrafendrähten verstrickte. Angesichts der Tatsache, dass Mr Panicker den Vogel sehr schätzte, anders als den verstorbenen Dick Shane, den seine Phantasie ähnlichen Schicksalen überantwortet hatte, verstörte ihn ein wenig die Grausamkeit seiner Visionen. In dem Durcheinander der Mordermittlung, dem faulen Schwall von Nachbarschaftsklatsch und der letztendlich erreichten Synthese im lebenslangen Syllogismus von Enttäuschung, die seine Ehe mit Ginny Stallard darstellte, waren diese Ausbrüche blutgrellen ornithologischen Gemetzels die einzigen Übergriffe des Vogel-Falls auf sein Bewusstsein gewesen. Nun verschwendete Mr Panicker zum ersten Mal (und hier war sein Schamgefühl stärker und brennender als alles, das seine Ehe, sein Beruf oder die Ungezogenheit seines unglückseligen Sohnes jemals in ihm hervorgerufen hatte oder haben könnte) einen Gedanken an diesen Jungen, der seinen einzigen Freund verloren hatte – ein kleiner, zerbrechlicher, ernst blickender, wortloser, Linus-Steinman-großer Gedanke.
»Im jüngsten Durcheinander …«, kam ihm der alte Mann hilfreich entgegen. Und dann: »Zweifellos haben Ihre geistlichen Pflichten und Aufgaben …«
»Nein«, sagte Mr Panicker. Auf einmal war er nüchtern und ruhig, gleichzeitig überrollte ihn eine absurde Welle der Dankbarkeit. »Natürlich nicht.«
Sie hatten den Kontrollpunkt erreicht. Zwei Polizisten in Uniform näherten sich dem Imperia, auf jeder Seite einer. Mr Panicker kurbelte das Fenster herunter, wobei er – notwendigerweise – mit mehreren kurzen Zupfern an der Scheibenkante nachhalf.
»Guten Morgen, Sir. Darf ich den Grund Ihrer Reise nach London erfahren?«
»Den Grund?«
Mr Panicker sah den alten Mann an, der seinen Blick mit unbeirrter, humoriger Unbekümmertheit erwiderte.