Vorsichtig nickte der Junge, in seinem Blick das erste Aufflackern eines Gefühls.
Der alte Mann steckte den verletzten Finger in den Mund und saugte daran, ohne es zu merken, ohne den salzigen Geschmack seines Blutes wahrzunehmen. In den South Downs im Juli 1944 auf einen einzelnen Deutschen zu stoßen – zumal auf ein Kind –, das war ein Rätsel, das alte Begierden und Kräfte entfachte. Er war froh, seinen gebeugten Körper dem heimtückischen Griff des Sessels entwunden zu haben.
»Wie bist du hergekommen?«, fragte der alte Mann. »Wo willst du hin? Woher um alles in der Welt hast du diesen Papagei?« Dann übersetzte er jede seiner Fragen ins Deutsche, was ihm unterschiedlich gut gelang.
Das war ein Rätsel, das alte Begierden und Kräfte entfachte.
Der Junge stand da und lächelte schwach. Mit zwei schmutzigen Fingern kraulte er den Papagei am Hinterkopf. Die Schwere seines Schweigens legte mehr nahe als den Unwillen zu sprechen; der alte Mann überlegte, ob der Junge nicht weniger deutsch als vielmehr geistig zurückgeblieben sein mochte, unfähig zu sinnvollen Äußerungen. Dann kam ihm eine Idee. Er hob die Hand und signalisierte dem Jungen, er solle an Ort und Stelle warten. Dann zog er sich ins Dunkel seines Cottages zurück. Im Eckschrank hinter dem zerbeulten Kohleneimer, in dem er früher seine Pfeifen aufbewahrt hatte, fand er eine staubbedeckte Dose mit violetten Pastillen. Sie war mit dem Porträt eines britischen Generals verziert, dessen großer Sieg längst jegliche Bedeutung für die gegenwärtige Lage des Empires verloren hatte. Auf der Netzhaut des alten Mannes schwammen Flecken, kaulquappenförmige Reflexe von Sommerlicht und die leuchtende, auf dem Kopf stehende Fata Morgana eines Jungen mit einem Papagei auf der Schulter. Plötzlich sah sich der alte Mann mit den Augen des Jungen als jähzornigen Drachen, der mit einer rostigen Dose verdächtiger Süßigkeiten in der klauenartigen, knochigen Hand wie in einem Märchen der Gebrüder Grimm aus der Dunkelheit seines riedgedeckten Hauses kriecht. Als der alte Mann wieder vor die Tür trat, war er überrascht und auch erleichtert zu sehen, dass der Junge sich nicht vom Fleck gerührt hatte.
»Hier«, sagte er und hielt ihm die Dose hin. »Es ist zwar schon lange her, aber zu meiner Zeit galten Süßigkeiten als eine Art Esperanto für Kinder.« Er grinste, zweifellos ein schiefes Drachengrinsen. »Na komm, willst du eine Pastille? Hier. Guter Junge.«
Der Junge nickte und durchquerte den sandigen Vorgarten zu den Süßigkeiten in der Dose. Er genehmigte sich drei oder vier kleine Pillen und nickte dann feierlich zum Dank. Stumm also – ein fehlender Stimmapparat.
»Bitte«, sagte der alte Mann. Zum ersten Mal seit sehr vielen Jahren spürte er den alten Verdruss, diese Mischung aus Ungeduld und Vergnügen angesichts der wunderbaren Weigerung der Welt, ihre Geheimnisse kampflos preiszugeben. »Nun«, fuhr er fort und leckte sich nach vorbildlicher Drachenart die trockenen Lippen, »jetzt verrat mir mal, wie du hierher gekommen bist, so weit fort von zu Hause.«
Wie Perlen rasselten die Pastillen gegen die kleinen Zähne des Jungen. Zärtlich fuhr ihm der Papagei mit seinem graphitblauen Schnabel durchs Haar. Der Junge seufzte, und ein entschuldigendes Zucken bemächtigte sich flüchtig seiner Schultern. Dann drehte er sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war.
»Neun neun drei acht zwei sechs sieben«, sagte der Papagei, und die beiden verschwanden in der flirrend grünen Weite des Nachmittags.
2
Das Sonntagsmahl am Tisch der Familie Panicker hatte so viele sonderbare Eigenarten, dass Mr Shane, der Neuankömmling, allein schon deshalb den Argwohn seines Wohngenossen Mr Parkins erregte, weil er so tat, als nehme er keine dieser Sonderheiten wahr. Mr Shane kam ins Speisezimmer marschiert, ein kräftiger, rotgesichtiger Kerl, der die Bodenbretter bei jedem Schritt mächtig zum Ächzen brachte und den Eindruck erweckte, als vermisse er schmerzlich ein Pony zwischen den Beinen. Sein kupferrotes Haar war fast bis auf die Kopfhaut geschoren, und seine Sprache hatte etwas unbestimmt Koloniales, eine näselnde Anmutung von Ausbildungslager oder Goldfeldern. Nacheinander nickte er Parkins, dem Flüchtlingsjungen und Reggie Panicker zu, dann warf er sich auf seinen Stuhl wie ein Junge, der sich auf den Rücken eines Schulkameraden schwingt, um quer über die Wiese zu reiten. Augenblicklich verwickelte er den alten Panicker in ein Gespräch über amerikanische Rosen, ein Thema, von dem Mr Shane, wie er freimütig zugab, nicht das Geringste verstand.
Lediglich eine unvorstellbare Selbstbeherrschung oder ein krankhafter Mangel an Neugier konnten in Parkins’ Augen das fast nicht vorhandene Interesse von Mr Shane, angeblich Handlungsreisender für Molkereibedarf bei der Firma Chedbourne & Jones in Yorkshire, an der Person seines Gesprächspartners Mr Panicker erklären. Dieser war nicht nur Malayalee aus Kerala, schwarz wie Schuhwichse, sondern auch noch Pfarrer der anglikanischen Hochkirche. So mochten ihn Höflichkeit oder Dummheit davon abhalten, eine Bemerkung über die mürrische Art zu machen, mit der Reggie Panicker, der erwachsene Sohn des Pfarrers, mit der Spitze seines Fischmessers ein tiefes Loch in die indische Leinentischdecke bohrte, sowie ein Wort über die Anwesenheit eines stummen neunjährigen Jungen bei Tische zu verlieren, dessen Miene einem leeren Blatt aus dem Buch der menschlichen Sorgen glich. Gleichwohl machte die Art und Weise, wie Mr Shane den Papagei des Jungen so gut wie ignorierte, es Mr Parkins unmöglich, dem neuen Mitbewohner vorbehaltlos gegenüberzutreten. Niemand konnte sich dem Reiz des Papageis entziehen, selbst wenn dieser, wie jetzt, lediglich Verse aus Goethe- und Schillergedichten rezitierte, die jedes siebenjährige deutsche Schulkind kannte. Augenblicklich sah Mr Parkins, der den Graupapagei aus persönlichen Gründen schon länger sorgfältig beobachtete, in dem neuen Mitbewohner einen potenziellen Rivalen in seinem Bestreben, das äußerst dunkle, knifflige Geheimnis des ungewöhnlichen afrikanischen Vogels zu lüften. Offenbar war jemand von ganz oben über die Zahlen informiert worden und hatte Mr Shane hergeschickt, um sie mit eigenen Ohren zu hören.
»So, da wären wir.« Mit einer Porzellanterrine der Manufaktur Spode kam Mrs Panicker ins Speisezimmer geeilt. Sie war eine große, schlichte, flachshaarige Frau aus Oxfordshire. Ihr unvorstellbar wilder Einfall vor dreißig Jahren, den ernsthaften, kohleäugigen indischen Hilfspfarrer ihres Vaters zu ehelichen, hatte weitaus mehligere Früchte getragen als die reifen, rosigen Papayas, mit denen sie gerechnet hatte, als sie an einem warmen Sommerabend im Jahr 1913 das duftende Haaröl von Mr K. T. Panicker eingeatmet hatte. Aber sie war eine ausgezeichnete Köchin, die eine viel größere Mieterschar verdient hatte als die, derer sich der Panicker-Haushalt momentan erfreute. Das Leben war bescheiden, der schwarze Pfarrer unbeliebt im Ort, die Gemeinde ein Haufen knickeriger Geizkragen und die Panicker-Familie trotz Mrs Panickers sparsamen, strengen Wirtschaftens unangenehm bedürftig. Allein Mrs Panickers liebevoll gepflegter Küchengarten und ihre kulinarischen Kniffe machten eine solch feine Gurken-Kerbel-Kaltschale möglich, wie sie sie nun, den Deckel von der Terrine hebend, Mr Shane vorsetzte, für dessen unvorhergesehene Anwesenheit und zweimonatige Vorauszahlung sie merklich dankbar war.