Langsam nickte der alte Mann, sein Gesichtsausdruck abwesend, die Augen glanzlos, er vernahm die Worte kaum. Infolge seiner kurzen Verwirrung und Bestürzung schien sich eine schwere Melancholie auf ihn gelegt zu haben. Sie stand im völligen Gegensatz zu dem Eifer und dem unverwüstlichen Tatendrang, das Spiel weiter zu verfolgen, den Mr Panicker nun an den Tag legte. Er lief bis zur Boundary Street, sprang in den Imperia und fuhr eilig zurück, um seinen Mit-Abenteurer abzuholen. Doch selbst als er sich Blacks Geschäft näherte, bewegte sich der Alte nicht. Vornübergebeugt stand er da, schwankend auf den Stock gestützt, in exakt derselben Haltung, in der Mr Panicker ihn zurückgelassen hatte. Er hielt am Bordstein an und zog die Handbremse. Der alte Mann starrte auf seine riesigen Stiefel hinunter. Nach einer Weile drückte Mr Panicker auf die Hupe, einmal, zweimal. Langsam hob der alte Mann den Kopf und spähte zum Beifahrerfenster, als habe er keine Vorstellung, wen er dahinter zu finden erwartete. Doch kurz bevor Mr Panicker sich hinüberlehnte, um die Scheibe herunterzukurbeln, änderte sich der Gesichtsausdruck des alten Mannes. Er hob eine Braue, seine Augen verengten sich listig, und ein langes, dünnes Lächeln verzog seine Mundwinkel.
»Nein, Sie Dummkopf!«, rief er, als Mr Panicker die Fensterscheibe senkte. »Kurbeln Sie sie wieder hoch!«
Mr Panicker gehorchte, und als er das tat, wurde das Grinsen im Gesicht des Alten auf wundervollste Weise immer breiter und gedehnter, und er sagte etwas, das Mr Panicker nicht verstand. Eine geschlagene Minute lang studierte der alte Mann die Fensterscheibe – möglicherweise musterte er sein eigenes Spiegelbild, überlegte Mr Panicker – und sprach lächelnd geheimnisvolle Worte vor sich hin. Selbst als er neben Mr Panicker ins Auto gestiegen war und die Worte laut wiederholte, war der Geistliche ratlos.
»Leg of red!«, wiederholte der alte Mann. »Wie immer, haha, ein Fall von Spiegelung! Leg of red!«
»Ent… Entschuldigung, Sir. Ich verstehe nicht …«
»Rasch! Was ist das Hauptmerkmal, wenn der kleine Steinman etwas in sein Notizbuch kritzelt?«
»Nun, er hat die sonderbare Eigenart, die Wörter umzudrehen. Spiegelschrift. Wie der Doktor sagt, hat es offenbar irgendwie mit seiner Unfähigkeit zum Sprechen zu tun. Zweifellos irgendein Trauma. Und dann habe ich festgestellt, dass seine Rechtschreibung grässlich ist.«
»Ja! Und als er in einem jämmerlichen Hilfsgesuch, wie ich nun erkenne, die Wörter ›leg of red‹ auf ein Stück Papier schrieb, demonstrierte er vorbildlich beide Eigenschaften.«
»Leg of red«, versuchte es Mr Panicker und projizierte die Buchstaben rückwärts auf eine innere Leinwand. »Der … Fo … gel.« Aha. »Der Vogel. Er hat nach dem Vogel gefragt. Natürlich.«
»Ja. Und jetzt sagen Sie mir bitte, was er auf die andere Seite des Zettels geschrieben hat.«
»Was für ein Zettel?«
Der alte Mann drückte ihm ein Stück Papier in die Hände.
»Auf diesen Zettel – auf dem ein junger, erwachsener Mann mit kontinentaler Handschrift die Adresse eben jenes Unternehmens vermerkt hat, vor dem wir jetzt stehen. Und der, wie ich fälschlicherweise schloss, vom Besitzer selbst fallen gelassen wurde.«
»Blak«, las Mr Panicker. Und dann, nach der Rückprojektion: »Gütiger Gott.«
10
Er hatte Verrückte gekannt: Der Mann, der nach gekochtem Vogelfleisch roch, wurde langsam verrückt.
Er kannte den Geruch von Vogelfleisch, denn die Menschen aßen es. Menschen aßen alles. Dass sie in den heimatlichen Wäldern das Fleisch seiner Artgenossen grillten und mit großem Appetit verspeisten, war ein nüchterner Bestandteil seines vorväterlichen Wissens. In den ersten Tagen seiner Gefangenschaft hatte das Grübeln über die blutige Nahrung der Menschen und über die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn lediglich zur Sättigung eines zukünftigen Hungergefühls am Leben hielten, ihn derartig gequält und angewidert, dass er verstummt war und sich eine Stelle im Brustgefieder kahl gerupft hatte. Inzwischen hatte er sich längst mit ihren grässlichen Gelüsten abgefunden und die Angst vor dem Gefressenwerden verloren; soweit er das hatte beobachten können, nahmen die Menschen, diese blassen Wesen, ihn und seine Artgenossen aus unerfindlichem Grund vom Schlachten aus, obgleich sie Vögel in grausamer Fülle und Vielfalt verschlangen. Am häufigsten aßen sie den Vogel, der kurcze-Hähnchen-poulet-chicken-kip hieß, und eben diesen Geruch, den Geruch eines geschlachteten und mit Möhren und Zwiebeln in Wasser gegarten Huhns, strömte der Mann aus, der verrückt wurde, obwohl er nie etwas anderes zu essen schien als Sardinen aus der Dose und Toastbrot.
Damals, am Hafen, im Haus des Holländers auf der Insel, wo er geschlüpft war, damals, als er noch das Feuer und die Zähne dieser schrecklichen Affenwesen mit ihren sonderbaren, betörenden Liedern fürchtete, war er selbst ein wenig verrückt geworden. Wenn er zusah, wie Kalb, der Hühner-Mann, Stunde um Stunde durchs Zimmer lief, hin und her, zerzaustes Gefieder auf dem Kopf, dichtes Gefieder im Gesicht, und leise vor sich hin sang, dann schob sich der Papagei in ungewollter Verbundenheit und mit einem gewissen Wohlbehagen von einem Ende der Sitzstange zum anderen und dachte daran zurück, wie er sich in jenen ersten verängstigten Monaten bei dem Holländer die Zeit auf eben dieser kurzen Strecke vertrieben hatte, hin- und hertrippelnd, und er schweigend an seinem Federkleid gerupft hatte, bis es blutete.
Er hatte Verrückte gekannt. Der Holländer war verrückt geworden: Mit ineinander verknoteten Händen hatte er das Mädchen getötet, das das Bett mit ihm teilte, dann hatte er seinen eigenen Tod aus einem Glas Whisky getrunken, der mit der übelriechendsten Substanz versetzt gewesen war, die Bruno in seinem langen Leben unter den Menschen mit ihrem bemerkenswerten Gestankarsenal je untergekommen war. Whisky besaß ein ganz eigenes Aroma, doch hatte Bruno es später während seiner Anstellung bei le Colonel schätzen gelernt. (Inzwischen war es ewig her, dass jemand Bruno Whisky angeboten hatte. Der Junge und seine Familie tranken ihn nie, und obgleich dem Vogel der beißende Geschmack oft im Atem und an der Kleidung des armen Reggie aufgefallen war, hatte er den armen Reggie nie mit einem Glas oder einer Flasche in der Hand gesehen.) Le Colonel hatte ebenfalls unter Anfällen von Wahnsinn gelitten; stummer, anhaltender Trübsinn, in dem er so tief versank, dass Bruno eine gewisse Trauer verspürte, wenn le Colonel nicht sang, obwohl sie nicht im Geringsten mit der Trauer zu vergleichen war, die er nun empfand, da er Linus, seinen Jungen, verloren hatte, der insgeheim für Bruno allein sang.
Eines von Linus’ alten Liedern, das Eisenbahnlied, trieb Kalb auf eine Weise in den Wahnsinn, die Bruno nicht gänzlich verstand, die er aber zu schätzen wusste und, zugegebenermaßen, sogar förderte. Immer wieder stellte sich Kalb mit einem Zettel in der einen und einem Stift in der anderen Hand vor Bruno auf und flehte ihn an, das Eisenbahnlied zu singen, das Lied der dahinrollenden Waggons. Im ganzen Zimmer lagen Blätter herum, die der Mann mit den Spuren seiner Krallen bedeckt hatte, Spuren, die, wie Bruno wusste, auf eine Art, deren Grundsätze er begriff, jedoch nie zu beherrschen gelernt hatte, die schlichten, mitreißenden Elemente des Eisenbahnlieds darstellen sollten. Manchmal verließ der Mann das gemeinsame Zimmer und kehrte mit einem kleinen Stoß blauen gefalteten Papiers zurück, das er aufriss, als enthalte es Nahrung, und hungrig seines Inhalts beraubte. Ausnahmslos und zu Brunos verwirrtem Verdruss stellte sich dann immer heraus, dass der Inhalt nichts anderes als ein neues Blatt voll kleiner Krallenspuren war. Und dann begannen die Bitten und Drohungen von vorn.