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Ohne zu zögern oder Skrupel zu zeigen, beschäftigte er sich mit dem grässlichen Beweisstück. Er hatte Menschen in jeglicher Todesphase und -pose gesehen: eine Dirne aus Cheapside mit durchtrenntem Hals, kopfüber eine Treppe am Themseufer hinuntergestürzt, Blut im Mund und in den Augenhöhlen; ein entführtes Kind, grün wie ein Wassergeist, in ein Kanalrohr gestopft; die papieren blasse Hülle eines Pensionärs, über einen Zeitraum von zwölf Jahren mit Arsen vergiftet; ein ausgebleichtes Skelett, das, von Raubvögeln, Hunden und zahllosen Insekten geplündert, im Wald klapperte, die zerfetzte Kleidung flatterte wie eine Fahne im Wind; eine Hand voll Zahn- und Knochenstückchen auf einer Schaufel blasser, inkriminierender Asche. An dem schiefen X, das der Tod in den Dreck von Hallows Lane gekritzelt hatte, war nichts Bemerkenswertes, ganz und gar nichts.

Schließlich verstaute der alte Mann seine Lupe und richtete sich so weit auf, wie ihm möglich war. Zum letzten Mal begutachtete er die Sachlage: die Hecken, der MG unter seiner Staubdecke, das Verhalten der Saatkrähen, die Richtung, die der aus dem Schornstein des Pfarrhauses quellende Rauch nahm. Dann drehte er sich zu dem jungen Inspector um und musterte ihn ausgiebig, ohne etwas zu sagen.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Sandy Bellows’ Enkel. Bisher hatte der alte Mann von der Frage abgesehen, ob der Großvater des Inspectors noch lebte. Er wusste nur zu gut, wie die Antwort lauten würde.

»Sie haben gute Arbeit geleistet«, sagte der alte Mann. »Erstklassig.«

Der Inspector lächelte, und sein Blick wanderte hinüber zu dem mürrischen Constable Quint, der neben dem kleinen grünen Sportwagen stand. Der Constable zog an der Spitze seines Schnurrbarts und schaute finster auf die klebrige, purpurrote Pfütze zu seinen Füßen.

»Shane wurde tatsächlich mit beachtlicher Kraft von hinten niedergeschlagen; da liegen Sie richtig. Sagen Sie mir, Inspector, wie bringen Sie das mit Ihrer Theorie überein, der Verstorbene habe den jungen Mr Panicker beim Stehlen des Papageis überrascht?«

Bellows wollte etwas sagen, gab stattdessen aber einen kurzen, müden Seufzer von sich und schüttelte den Kopf. DC Quint strich den Schnurrbart nach unten, um das Lächeln zu verbergen, das sich auf seinen Lippen breit machte.

»Verteilung und Häufigkeit der Schuhabdrücke legen nahe«, fuhr der alte Mann fort, »dass Mr Shane sich in dem Augenblick, als der Schlag ihn traf, mit einiger Hast bewegte und etwas in der linken Hand trug, ich würde meinen, etwas ziemlich Schweres. Da Ihre Leute seinen Reisekoffer und seine gesamte Habe am Gartentor gefunden haben, als hätte das Gepäck auf die Verladung in den Kofferraum des Fahrzeugs gewartet, und da der Vogelkäfig nirgends aufzutreiben ist, halte ich die Schlussfolgerung für vertretbar, dass Shane, als er ermordet wurde, fliehen wollte, und zwar mit dem Vogelkäfig. Vermutlich befand sich der Vogel darin, obgleich ich meine, dass ein gründliches Absuchen der Gegend erfolgen sollte, und zwar bald.«

Der junge Inspector drehte sich zu DC Quint um und nickte einmal. Constable Quint ließ seinen Schnurrbart los. Er schaute entgeistert.

»Bei allem Respekt, Sir, aber Sie können doch nicht ernsthaft erwarten, dass ich wertvolle Zeit verschwende, indem ich in die Bäume starre und einen …«

»Oh, machen Sie sich keine Sorgen, Detective Constable«, sagte der alte Mann zwinkernd. Er war nicht geneigt, seine Hypothese – natürlich nur eine von vielen – darzulegen, dass Bruno, der Graupapagei, geschickt genug sein könnte, um vor seinem Häscher zu fliehen. Männer, insbesondere Polizisten, neigten dazu, Tiere in ihrer Fähigkeit zu unterschätzen, mit oft beachtlicher Chuzpe die widerwärtigsten Verbrechen und wagemutigsten Kunststücke durchzuführen. »Die Schwanzfedern sind nicht zu übersehen.«

Einen Augenblick lang schien Constable Quint nicht in der Lage, die Muskulatur seines Kiefers unter Kontrolle zu bringen. Dann stapfte er den Weg hinunter auf den spaliergesäumten Torweg zu, der zum Garten des Pfarrhauses führte.

»Was Sie angeht …« Der alte Mann wandte sich an den Inspector. »Sie müssen versuchen, sich eigene Informationen über unser Opfer zu verschaffen. Natürlich will ich den Leichnam sehen. Ich vermute, dass wir möglicherweise …«

Eine Frau schrie, anfangs eindrucksvoll, fast hätte man sagen können, melodisch. Dann zerfiel ihr Schrei in eine Reihe kurzer, keuchender Kläffer:

Oh oh oh oh oh

Der Inspector lief los, sodass der alte Mann ihm schlurfend und humpelnd folgen musste. Im Garten befanden sich eine Reihe vertrauter Gegenstände und Lebewesen auf einer Grünfläche, als habe man sie dort wie Jetons oder Schachfiguren des königlichen Zeitvertreibs zu einem bestimmten Behufe oder einem sich noch zu erschließenden Zweck gruppiert. Der alte Mann betrachtete alles und durchlebte einen Moment schwindelnden Schreckens, weil er weder die Anzahl abschätzen noch sich an Namen oder Verwendungszweck erinnern konnte. Jede Faser seines Körpers spürte, so wie man Schwerkraft oder Trägheit empfinden mochte, die Unausweichlichkeit seines Versagens. Der Sieg des Alters über seinen Verstand war kein schlichtes Abstumpfen oder Verlangsamen, sondern eine Vernichtung – als werde eine Wüstenstadt unter tausend Jahren Treibsand begraben. Die Zeit hatte das kunstvolle Muster seines Intellekts ausgebleicht und nur einen blanken weißen Knochen zurückgelassen. Der alte Mann befürchtete, ihm könne übel werden, und er hob den Knauf seines Stocks an den Mund. Das Messing war kalt an seinen Lippen. Augenblicklich schien der Schreck abzuflauen; das Bewusstsein sammelte sich um den brutalen Geschmack des Metalls, und unvermittelt stellte der alte Mann mit unaussprechlicher Erleichterung fest, dass er lediglich die beiden Polizisten Bellows und Quint, Mr und Mrs Panicker neben der Vogeltränke, einen gut aussehenden Juden in schwarzem Anzug, eine Sonnenuhr, einen Holzstuhl und einen Weißdornbusch in üppiger Blüte vor sich hatte. Alle schauten zum riedgedeckten Dachfirst des Pfarrhauses empor, wo sich die letzte noch im Spiel befindliche Figur aufhielt.