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»Junger Mann, komm da sofort herunter!«

Eine Frau schrie, …, fast hätte man sagen können, melodisch.

Die Stimme gehörte Mr Panicker, der nach Ansicht des alten Mannes wesentlich intelligenter als ein durchschnittlicher Landpfarrer war, aber wesentlich weniger geeignet, sich um die Seelen seiner Schäfchen zu kümmern. Mr Panicker ging ein, zwei Schritte zurück, als wolle er einen Punkt finden, von dem aus er den Jungen auf dem Dach besser mit einem unheilvollen Blick bannen konnte. Aber die Augen des Pfarrers sind viel zu groß und kummervoll, dachte der alte Mann, als dass dies funktionieren würde.

»He, Kleiner«, rief Constable Quint nach oben. »So wirst du dir den Hals brechen!«

Aufrecht stand der Junge da, die Arme seitlich am Körper, die Füße eng nebeneinander, und schwankte auf dem Drehpunkt seiner Absätze. Er machte keinen traurigen oder verspielten Eindruck, sondern sah schlicht auf seine Schuhe oder auf den Boden weiter unten hinab. Der alte Mann fragte sich, ob er eventuell hinaufgeklettert war, um seinen Papagei zu suchen. Vielleicht hatte der Vogel in der Vergangenheit des Öfteren Zuflucht auf Dächern gefunden.

»Eine Leiter!«, sagte der Inspector.

Der Junge verlor den Halt und rutschte auf dem Hosenboden den langen Riedhang des Daches hinunter auf die Regenrinne zu. Erneut stieß Mrs Panicker einen Schrei aus. Im letzten Augenblick bekam der Junge zwei Fäuste voller Stroh zu fassen und hielt sich daran fest. Mit einem Ruck wurde seine Fahrt gebremst, doch dann gab das Stroh unter seinen Händen nach, und er segelte ins Leere, stürzte nach unten und landete mit einem erschreckenden Knirschen, wie ein an Klippen zerschellendes Fass, auf dem gut aussehenden jungen Juden, der, nach dem Schnitt seines Anzugs zu urteilen, aus London stammte. Nach einem kurzen Moment der Benommenheit stand der Junge auf und schüttelte die Hände, als kribbelten sie. Dann reichte er eine dem Mann, der bäuchlings auf dem Boden lag.

»Mr Kalb!«, rief Mrs Panicker und eilte, eine Hand auf die Halskette über ihrem Herzen gepresst, an die Seite des eleganten Londoners. »Du lieber Himmel, sind Sie verletzt?«

Mr Kalb ergriff die von dem Kind dargebotene Hand und tat so, als lasse er sich auf die Füße ziehen. Obgleich er unter Stöhnen zusammenfuhr, verließ das Grinsen seine Lippen nicht eine Sekunde.

»Nicht allzu sehr. Vielleicht eine geprellte Rippe. Das ist gar nichts.«

Er streckte die Arme aus, und der Junge machte einen Schritt nach vorne und trat dazwischen. Sichtlich zusammenzuckend, hob Mr Kalb ihn in die Höhe. Erst als der Junge sich in den Armen des Besuchers aus London wusste, ließ er aus Gründen, die der alte Mann zu gerne verstanden hätte, seinen Gefühlen freien Lauf und betrauerte unbeherrscht und hemmungslos, das Gesicht in Mr Kalbs Schulter verborgen, den Verlust seines Freundes.

Der alte Mann bahnte sich seinen Weg durch den Garten.

»Du da«, sagte er, »kennst du mich noch?«

Mit rotem, geschwollenem Gesicht schaute der Junge auf. Eine zarte Speichelbrücke verband seine Nasenspitze mit dem Aufschlag von Mr Kalbs Jacke.

Der Inspector stellte dem alten Mann den Herrn mit dem traurigen Blick vom Hilfskomitee vor, Mr Martin Kalb. Mrs Panicker hatte sofort nach ihm schicken lassen, als Bruno am Morgen verschwunden war. Als Mr Kalb den Namen des Alten hörte, flackerte in seinen Augen etwas auf, eine schwache Erinnerung. Er lächelte und wandte sich an den Jungen.

»So«, sagte er in einem Deutsch, das der alte Mann mit einer kleinen Verzögerung verstand, und drückte dem Jungen ermutigend die Schulter, »dies ist der Mann, der deinen Vogel finden wird. Jetzt musst du dir keine Sorgen mehr machen.«

»Mrs Panicker«, sagte der alte Mann über die Schulter hinweg – der Frau wich sämtliches Blut aus dem Gesicht, als hätte er sie ohne Alibi ertappt, dabei hatte er sie keinen Moment lang verdächtigt –, »ich möchte mich mit Ihrem Sohn unterhalten. Ich bin überzeugt, dass die Polizei nichts dagegen einzuwenden hat, wenn Sie mich mit einem sauberen Hemd und einer Schachtel Gebäck begleiten.«

5

Sie packte zwei Hemden, zwei Paar Socken und ein Paar säuberlich gebügelter Unterhosen ein. Eine brandneue Zahnbürste. Ein Stück Käse, eine Packung Kräcker und eine uralte Schachtel mit den Sultaninen, die er so gerne mochte, aus Zeiten vor der Rationierung, nicht mal eine Hand voll. Sie zog ihr gutes blaues Kleid mit dem Mandarinkragen an und ging nach unten, um den Jungen zu suchen.

Schon vor Brunos Diebstahl hatte Linus die Neigung gehabt, zeitweise zu verschwinden. Er kam ihr weniger wie ein Junge als vielmehr wie der Geist eines Jungen vor, der sich durch das Haus, das Dorf, die Welt stahl. Überall besaß er Verstecke: in schattigen Winkeln des Kirchhofs, unter dem Dach des Pfarrhauses, selbst im Glockenturm der Kirche. Mit dem Vogel auf der Schulter marschierte er hinaus ins Land, und obwohl ihr das stark missfiel, hatte sie es aufgegeben, ihn davon abhalten zu wollen, denn sie konnte sich nicht überwinden, das arme Kind zu bestrafen. Das brachte sie nicht übers Herz. Außerdem hatte sie ihren Reggie mit einer Strenge erzogen, die ihr nicht leicht gefallen war, und man sah ja, wohin das letztlich geführt hatte.

Sie fand den Jungen am Bach neben dem Kirchhof. Dort stand eine vermooste Steinbank, auf der bestimmt schon sechs oder sieben Jahrhunderte lang Dorfbewohner im Schatten der fülligen Eibe gesessen und ihren trüben Gedanken nachgehangen hatten. Martin Kalb saß neben ihm. Linus hatte Schuhe und Socken abgestreift. Mr Kalb war ebenfalls barfuß. Aus irgendeinem Grund erschütterte Mrs Panicker der Anblick seiner blassen Füße, die nackt aus den Umschlägen der feinen grauen Nadelstreifenhose hervorlugten.

»Ich gehe aus«, sagte sie, zu laut. Sie wusste, dass es furchtbar von ihr war, aber sie konnte sich nicht davon abhalten, den Jungen anzuschreien, als sei er taub. »Ich muss Reggie besuchen. Mr Kalb, ich hoffe, dass Sie die Nacht bei uns verbringen werden.«

Mr Kalb nickte. Er hatte ein langes, hübsches Gesicht, offen und dienstbeflissen. Er erinnerte sie an Mr Panicker im Alter von sechsundzwanzig Jahren. »Natürlich.«

»Sie können in Linus’ Zimmer schlafen. Dort stehen zwei Betten.«

Mr Kalb schaute den Jungen an und hob eine Augenbraue. So als spreche er aus Respekt vor der Stummheit des Jungen so wenig wie möglich mit ihm. Der Junge nickte. Mr Kalb nickte. Mrs Panicker wurde von Dankbarkeit erfüllt.

Der Junge zog seinen Block und den grünen Bleistiftstummel aus der Jacke. Gewissenhaft kritzelte er etwas auf ein Blatt; er schrieb nur mit größter Anstrengung und kaute dabei auf der Unterlippe. Kurz betrachtete er, was er zu Papier gebracht hatte, dann zeigte er es Mr Kalb. Mrs Panicker konnte nie etwas mit dem anfangen, was der Junge fabrizierte.

»Er fragt, ob Mr Shane wirklich tot ist«, sagte Mr Kalb.

»Ja«, rief sie beinahe, und dann, leiser: »Das stimmt.«

Mit seinen großen braunen Augen schaute Linus zu ihr auf und nickte einmal, fast zu sich selbst. Es war unmöglich, zu sagen, was er dachte. Das war es fast immer. Obwohl er ihr Leid tat, sie ihn in ihre Gebete einschloss und auf eine sonderbare Weise auch spürte, dass sie ihn lieb hatte, war irgendetwas an Linus für sie fremdartiger, als seine Nationalität oder Religion erklären konnte. Auch wenn er ein hübscher Junge und der Vogel ein schönes Tier war, besaß ihre gegenseitige Verbundenheit eine Intensität, die Mrs Panicker unheimlicher fand als die numerischen Tiraden des Vogels oder die herzergreifende Süße seines Gesangs.