Der Junge drückte noch ein paar Worte aus dem Bleistiftstummel. Mr Kalb überflog sie seufzend und übersetzte sie.
»Er war nett zu mir«, sagte er.
Mrs Panicker wollte antworten, aber sie schien ihre Stimme verloren zu haben. Irgendetwas in ihrem Brustkorb drängte nach oben. Zu ihrer eigenen Scham und Bestürzung brach sie dramatisch in Tränen aus. Es war das erste Mal seit Ende der zwanziger Jahre, dass sie weinte, auch wenn der Allmächtige wusste, dass sie Grund genug dazu gehabt hätte. Sie weinte, weil dieser Junge, dieser irgendwie Versehrte oder geschundene Junge, seinen Papagei verloren hatte. Sie weinte, weil ihr Sohn in einer Zelle unter dem Rathaus saß, als Häftling der Krone. Und sie weinte, weil sie im Alter von siebenundvierzig Jahren, nach fünfundzwanzig Jahren der Ehrfurcht, Enttäuschung und Selbstbeherrschung, ein völlig törichtes Interesse an dem neuen Untermieter Mr Richard Shane gefasst hatte, wie eine Figur in einem schlüpfrigen Roman.
Sie ging zu dem Jungen und blieb vor ihm stehen. Sie hatte seinen Hintern gewaschen und sein Haar gekämmt. Sie hatte ihn gefüttert und gekleidet und sein Erbrochenes in einer Schüssel aufgefangen, wenn ihm übel wurde. Aber sie hatte ihn noch nie umarmt. Sie streckte die Hände aus; er beugte sich vor und legte seinen Kopf, ein wenig unbeholfen, an ihren Bauch. Mr Kalb räusperte sich. Sie spürte die Schwere seines zur Seite gewandten Blicks, während sie den Kopf des Jungen streichelte und versuchte, sich für den Besuch im Gefängnis zu wappnen. Es war ihr peinlich, vor dem jungen Herrn vom Hilfskomitee zu weinen. Nach einer Weile warf sie ihm einen kurzen Blick zu und sah, dass er ihr ein Taschentuch darbot. Ein Dankeschön murmelnd, nahm sie es an.
Der Junge zog sich zurück und beobachtete, wie sie sich die Augen trocken tupfte. Es berührte sie auf lächerliche Weise, wie besorgt er zu sein schien. Er tippte an ihre Hand, als wolle er, dass sie dem, was er als Nächstes äußern würde, besonders große Aufmerksamkeit schenke. Dann kritzelte er fünf weitere Wörter in seinen kleinen Block. Mr Kalb studierte sie mit gerunzelter Stirn. Die Rechtschreibung des Jungen war miserabel, rudimentär. Er verdrehte Buchstaben und ganze Wörter, besonders bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er versuchte, sich auf Englisch auszudrücken. Einmal hatte er Mrs Panickers Gatten mit einer schriftlichen Anfrage völlig aus der Fassung gebracht, die folgendermaßen lautete: WARUM TOG NOV KRISTEN MAG KEIN JUDEN REDNIK?
»Fragen Sie den alten Mann«, las Mr Kalb vor.
»Was um alles in der Welt soll ich ihn fragen?«, sagte Mrs Panicker.
Nur einmal zuvor hatte sie den alten Mann gesehen, das war 1936, auf dem Bahnhof, als er aus seiner bienentollen Einsiedelei gekrochen war, um fünf gewaltige Lattenkisten in Empfang zu nehmen, die ihm aus London zugegangen waren. Mrs Panicker war an jenem Morgen auf der Reise nach Lewes gewesen, doch als der alte Mann auf den Bahnsteig schlurfte, auf dem die Züge gen Süden hielten, begleitet vom strammen ältesten Sohn seines Nachbarn Walt Satterlee, wechselte sie auf die andere Seite, um ihn besser betrachten zu können. Vor vielen, vielen Jahren hatte sein Name – der mittlerweile selbst den Pomp und die Rechtschaffenheit jener untergegangenen Ära heraufbeschwor – die Zeitungen und Polizeiblätter des Empire geschmückt, doch an jenem Morgen war es sein jüngerer, lokaler Ruf gewesen, der Mrs Panicker auf die andere Seite des Bahnsteigs lockte; er gründete fast ausschließlich auf Legenden über seine Zurückhaltung, Reizbarkeit und Feindseligkeit gegenüber allen menschlichen Wesen. Dünn wie ein Windhund sei er, hatte sie später ihrem Gemahl berichtet, auch im Gesicht habe er etwas Hundeartiges oder eher Wölfisches, seine Augen unter den schweren Lidern seien intelligent, wachsam und blass. Sein Blick hätte Merkmale und Machart des Bahnsteigs, die Texte der angeschlagenen Bekanntmachungen, einen fortgeworfenen Zigarrenstummel und das zerrupfte Starennest in den Sparren des überhängenden Daches registriert. Und dann hätte er seine wölfischen Augen auf sie gerichtet. Die Gier in ihnen erschreckte sie derart, dass sie einen Schritt zurück machte und so heftig mit dem Kopf gegen einen Eisenpfahl schlug, dass sie später getrocknete Blutklumpen in ihrem Haar fand. Es sei eine vollkommen unpersönliche Gier, falls es so etwas gebe – an dieser Stelle geriet ihr Bericht unter dem Druck von Mr Panickers Missbilligung ihrer »romantischen Natur« ins Stocken –, eine Gier frei von Lüsternheit, Appetit, Bosheit oder Wohlwollen. Es war eine Gier, erkannte sie später, nach Information. Und doch wohnte seinem Blick eine Lebendigkeit inne, eine Art kühler Vitalität, die an Vergnügen grenzte, als habe eine regelmäßige, lebenslange Kost prosaischer Beobachtungen die Jugendlichkeit seiner Sehorgane bewahren können. Vornübergebeugt wie viele groß gewachsene alte Männer, hatte er in einem dicken wollenen Inverness-Cape im prallen Aprilsonnenschein gestanden und sie gemustert, inspiziert, ohne jedes Bemühen, seine Prüfung zu verbergen oder zu verhehlen. Das Cape, erinnerte sie sich, war stark geflickt gewesen, jedoch unter völliger Missachtung von Muster oder Stoff, und an hundert Stellen mit bunt gemischten farbigen Garnen gestopft.
Alsbald fuhr der Zug aus London ein und spuckte die mit dem altehrwürdigen Namen des Mannes beschrifteten gewaltigen Kisten aus, in die in regelmäßigen Abständen runde Löcher gestanzt waren. Deutlich lesbar auf der Seite jeder Kiste war die schablonierte Adresse einer Stadt in Texas. Später erfuhr Mrs Panicker, dass die Kisten, unter anderen exotischen Artikeln, schwere Tabletts voller Eier einer bisher in Großbritannien unbekannten Honigbienenart enthielten.
Mr Panickers Antwort, als sie ihren Bericht abgeschlossen hatte, war typisch für ihn gewesen.
»Es betrübt mich zu hören, dass unsere guten englischen Bienen seinen Ansprüchen nicht genügen«, hatte er gesagt.
Und jetzt saß sie neben dem alten Mann in einem Hinterzimmer des Rathauses. Durch das einzige Fenster strömte vom leeren Nachbargrundstück, wie vom alten Mann angezogen, das Gemurmel von Bienen herein, eindringlich wie der stickige Nachmittag selbst. In den letzten fünfzehn Minuten, die sie auf den Häftling gewartet hatten, hatte der alte Mann seine Pfeife gestopft und an ihr gezogen. Noch nie hatte sie, die in einem Haus mit sieben Brüdern und einem verwitweten Vater aufgewachsen war, einen derart stinkenden Qualm einatmen müssen. Er hing so schwer im Raum wie frisch geschorene Schafswolle und malte Arabesken in das grelle, schräg durchs Fenster fallende Licht.
Sie betrachtete die Ranken von Rauch, die sich im Sonnenlicht wanden, und versuchte sich vorzustellen, wie ihr Sohn sich daranmachte, jenen feinen, vitalen Mann zu ermorden. Nichts, was sie vor ihrem inneren Auge sah, überzeugte sie. In ihrer Kindheit hatte Mrs Panicker, geborene Ginny Stallard, unabhängig voneinander die Ermordung zweier Männer erlebt. Das erste Opfer war Huey Blake gewesen, der im Verlauf eines nur halb freundschaftlichen Ringkampfes von ihren Brüdern im Piltdown Pond ertränkt worden war. Das andere war ihr Vater gewesen, Reverend Oliver Stallard, der vom alten Mr Catley während des sonntäglichen Essens erschossen worden war, nachdem Letzterer den Verstand verloren hatte. Obgleich alle Welt ihrem schwarzen Gatten die Schuld am wankelmütigen Wesen ihres einen, einzigen Sohnes gab, vermutete Mrs Panicker, dass es ganz allein ihr Fehler war. Die Männer der Stallard-Familie waren allesamt Taugenichtse oder Unglücksraben gewesen. Beinahe war sie geneigt zu glauben, es sei ein weiterer Beweis für den schwachen Charakter ihres Sohnes – auch wenn, weiß Gott, keiner nötig wäre –, dass es so lange dauerte, Reggie aus der Zelle heraufzubringen. Sie konnte sich nicht vorstellen, was ihn aufhalten mochte.