Als die trockenen Finger des alten Mannes unerwartet ihren rechten Handrücken berührten, zuckte das Herz in ihrer Brust zusammen.
»Bitte«, sagte er mit kurzem Blick auf ihre Hand, und sie merkte, dass sie ihren Ehering abgestreift hatte und fest zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. Offenbar hatte sie schon länger mit dem Ring auf die Armlehne geklopft, vielleicht von dem Moment an, als sie im Wartezimmer Platz genommen hatte. Schwach hallte der Klang durch ihre Erinnerung.
»Entschuldigung«, sagte sie. Sie musterte die fleckige Hand auf der ihren. Er zog sie fort.
»Ich weiß, wie schwer das für Sie sein muss«, sagte er und lächelte aufmunternd, was sie – erstaunlicherweise – aufmunterte. »Immer mit der Ruhe.«
»Er war es nicht«, sagte sie.
»Das bleibt abzuwarten«, sagte der alte Mann. »Aber bisher, muss ich gestehen, bin ich geneigt, Ihnen beizupflichten.«
»Ich mache mir keine Illusionen über meinen Sohn, Sir.«
»Daran erkennt man zweifellos vernünftige Eltern.«
»Er hatte eine Abneigung gegen Mr Shane gefasst, das stimmt.« Sie war eine ehrliche Frau. »Aber Reggie fasst eine Abneigung gegen jeden. Er scheint nichts dagegen tun zu können.«
Da öffnete sich die Tür, und der arme Reggie wurde hereingebracht. Auf der Wange hatte er ein Pflaster und an der linken Schläfe eine längliche Narbe, seine Nase wirkte auch irgendwie zu groß und war auf dem Rücken dunkelrot. Kurz durchfuhr seine Mutter die irrige Vermutung, er habe sich diese Verletzungen während seines verhängnisvollen Kampfes mit Mr Shane zugezogen, und durch den Kopf schoss ihr die flüchtige Hoffnung, auf Notwehr zu plädieren, doch dann erinnerte sie sich gehört zu haben, wie Detective Constable Quint ihrem Mann erzählte, Shane sei von hinten getötet worden, mit einem einzigen Schlag auf den Kopf – es hatte keinen Kampf gegeben. Ein Blick in die Gesichter der Polizisten, die mit starr in die Zimmerecken gerichteten Augen Reggie zu dem leeren Stuhl beförderten, und ihr kam die wahre Erkenntnis.
Der alte Mann erhob sich und stieß mit dem Stiel seiner Pfeife in Richtung ihres Sohnes.
»Wurde dieser Mann verletzt?«, sagte er mit einer Stimme, die selbst in ihren Ohren dünn und gereizt klang, als seien die Prügel, die ihr Sohn von der Polizei bezogen hatte, von einer moralischen Selbstverständlichkeit, die über jeden zaghaften Protest erhaben war, den er oder jemand anders anmelden mochte. In ihrem Kopf wetteiferte der Schrecken darüber mit einer tiefen, rauen Stimme, die unablässig flüsterte: Das musste so kommen. Das war schon lange abzusehen. Mrs Panicker musste all ihre Selbstbeherrschung aufbieten – ein beträchtliches Talent, ein Leben lang durch fast ununterbrochene Übung gestärkt –, um nicht quer durch das Zimmer zu gehen und den misshandelten dunklen Kopf ihres Sohnes in die Arme zu nehmen, und sei es nur, um das verfilzte Gewirr seiner schweren schwarzen Haare zu glätten.
Die beiden Polizisten, Kommunikanten von Mr Panicker, hießen, wie ihr schließlich einfiel, Noakes und Woollett; sie schauten den alten Mann mit zusammengekniffenen Augen an, als klebe ein Rest vom Frühstück an seiner Lippe.
»Ist gefallen«, sagte der eine, den Mrs Panicker für Noakes hielt.
Woollett nickte. »War Pech«, sagte er.
»Allerdings«, sagte der alte Mann. Jede Regung wich aus seinem Gesicht, als er die nächste lange, gründliche Musterung vornahm. Sein Objekt war diesmal das empörte Gesicht ihres Sohnes, der den alten Mann mit hasserfülltem Blick anstarrte, was Mrs Panicker nicht sonderlich schockierte; ganz im Gegenteil war sie überrascht zu sehen, dass Reggies Blick schließlich nachgab und sich auf seine mageren, braunen, auf dem Schoß gekreuzten Handgelenke senkte, was ihn viel jünger wirken ließ als zweiundzwanzig Jahre.
»Was will sie denn hier?«, sagte er schließlich.
»Ihre Mutter hat Ihnen ein paar persönliche Dinge mitgebracht«, sagte der alte Mann. »Ich bin sicher, dass Sie sie gebrauchen können. Aber wenn Sie wollen, werde ich Ihre Mutter bitten, draußen zu warten.«
Reggie hob den Blick, schaute zu ihr hinüber, und in seinem Schmollmund lag etwas Dankähnliches, eine boshafte Dankbarkeit, als sei sie vielleicht doch keine gar so schreckliche Mutter, wie er immer gedacht hatte. Obwohl sie ihrer eigenen Buchführung nach – und da war sie gewiss nicht großzügig zu sich selbst – ihren Sohn nie im Stich gelassen hatte, schien er jedes Mal, wenn sie zu ihm hielt, sonderbar skeptisch und erstaunt Zu sein.
»Ist mir scheißegal, was sie macht«, sagte er.
»Ja«, sagte der alte Mann trocken. »Ja, das nehme ich an. Also gut. Aha. Hm. Nun, erzählen Sie mir doch bitte von Ihrem Freund Mr Black aus London.«
»Da gibt’s nichts zu erzählen«, sagte Reggie. »Ich kenne den Kerl nicht.«
»Mr Panicker«, sagte der alte Mann. »Ich bin neunundachtzig Jahre alt. Das kurze Leben, das mir noch vergönnt ist, würde ich sehr viel lieber in Gesellschaft von Personen verbringen, die weitaus intelligenter und geheimnisvoller sind als Sie. Erlauben Sie also bitte im Interesse der spärlichen mir noch verbleibenden Zeit, dass ich Ihnen über Mr Black von der Club Row in London berichte. Ich nehme an, dass ihm kürzlich etwas über einen erstaunlichen Papagei zu Ohren gekommen ist, ein ausgewachsenes Tier von guter Gesundheit, das ein beachtliches Imitationstalent und ein Gedächtnis besitzt, welches bei dieser Art weit über der Norm liegt. Wäre dieser Vogel nun im Besitz von Mr Black, könnte er ihn für eine hübsche Summe an einen Liebhaber hier in Großbritannien oder auf dem Kontinent verkaufen. Daher hatten Sie den Entschluss gefasst, den Vogel zu stehlen, und alles entsprechend vorbereitet, um ihn in der Hoffnung auf Einnahme eines größeren Geldbetrags an Mr Black zu veräußern. Wenn ich mich nicht irre, benötigen Sie dieses Bargeld, um die bei Fatty Hodges aufgelaufenen Schulden zu begleichen.«
Die Worte waren ausgesprochen und zu Boden gefallen, noch ehe Mrs Panickers Gedanken sie auffangen oder den unvermittelten Schock aufhalten konnten, der sie dabei durchfuhr. Nach allgemeiner Übereinkunft und öffentlicher Akklamation war Fatty Hodges der schlimmste Mensch in den South Downs. Nicht auszudenken, in welch Unheil er Reggie geritten haben mochte.
Noakes und Woollett starrten vor sich hin; Reggie starrte vor sich hin, alle starrten vor sich hin. Woher konnte der Alte das nur wissen?
»Meine Bienen fliegen überall«, sagte der alte Mann. Er reckte den Hals und rieb sich mit einem trockenen Schaben die Hände – ein Kartenzauberer, der gerade das Ass aus dem Ärmel gezogen hatte. »Und sie sehen alles.«
Die Schlussfolgerung, dass seine Bienen ihm auch alles erzählten, blieb unausgesprochen. Mrs Panicker nahm an, dass er befürchtete, es klinge verrückt; viele glaubten längst, er habe eine Schraube locker.
»Doch ehe Sie das geliebte Tier, den einzigen Freund eines einsamen, verwaisten Flüchtlingskindes, stehlen konnten, kam Ihnen leider der Untermieter Mr Shane zuvor. Als dieser sich mit dem Vogel aus dem Staub machen wollte, wurde er überfallen und getötet. Nun gelangen wir an den Punkt, oder besser gesagt, an einen Punkt, wo die Polizei und ich unterschiedlicher Auffassung sind. Denn selbstredend sind wir ebenfalls unterschiedlicher Ansicht, was die Ratsamkeit betrifft, Häftlinge der Krone zu schlagen, insbesondere solche, die noch nicht verurteilt sind.«