»Hast du etwas dagegen, wenn ich dir Gesellschaft leiste?«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte er, aber sein Gesichtsausdruck sagte etwas anderes.
Nicht, dass Kimberly besonders scharf auf diese Pflichtübung gewesen wäre. Aber wenn sie sich mit diesem … Sprössling gutstellen und herausfinden wollte, was eigentlich vor sich ging, konnte sie genauso gut jetzt damit anfangen.
»Hast du deinen Vater heute Morgen noch gesehen, bevor er gegangen ist?«
»Nur kurz. Er sagte, wir würden heute Abend reden.«
Kimberly setzte sich an den kleinen Glastisch, und als Gertrude hereinkam, fragte sie sie, wo die Köchin sei.
»Die Party gestern Abend dauerte so lange, also sagte ich ihr, dass sie erst mittags zu kommen bräuchte.«
»Dann werde ich wohl Sie bitten müssen, mir mein übliches Frühstück zu machen. Eine kleine Schale Müsli mit frischen Früchten und Joghurt sowie schwarzen Kaffee.«
»Möchtest du noch etwas, Ezra?«, fragte Gertrude demonstrativ. »Vielleicht ein paar Eier, so wie du sie gerne magst, mit zerkrümelter Matze?«
Kimberly war nicht dumm, sie wusste, dass es sich bei dieser Verzögerung um einen subtilen Akt des Ungehorsams handelte, aber sie war klug genug, für dieses Mal ihren Mund zu halten.
»Danke, Gertrude, aber ich möchte nichts mehr«, sagte Ezra. Endlich drehte Gertrude sich um, ihr langer schwarzer Rock wirbelte um ihre fetten Knöchel, und sie ging in die angrenzende Küche. Kimberly hörte sie herumfuhrwerken, und selbst das erboste sie.
»Ich bin so froh, dass du gestern Abend noch den Bürgermeister begrüßen konntest. Er ist so ein witziger Mann, wenn er sich mal bei Freunden entspannen kann. Aber wir werden noch mehr Dinnerpartys geben, und mit der Zeit wirst du ihn schon kennenlernen.«
Ezra nickte unverbindlich und nippte an seinem Kaffee.
»Also«, sagte Kimberly auf der Suche nach einem Anfang, »mit den ganzen Leuten gestern Abend hatten wir gar nicht die Gelegenheit, uns richtig zu unterhalten. Warum hast du dich entschieden, nach New York zurückzukehren?«
Ezra hob den Blick zum Fenster, und ein paar Sekunden lang sagte er gar nichts. »Meine Arbeit in Israel ist beendet.«
Da Kimberly keine klare Vorstellung davon hatte, worin diese Arbeit bestanden hatte, und sich auch nicht wirklich dafür interessierte, ging sie nicht näher darauf ein. »Und hast du jetzt vor, für immer hier zu bleiben … ich meine, in New York?«
»Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Du weißt, dass du natürlich so lange bei uns wohnen kannst, wie du möchtest«, sagte sie. »Ich weiß, dass dein Vater sehr glücklich ist, dich wieder hier zu haben.«
Gertrude kam mit einem lackierten Tablett herein, auf dem sie Kimberlys Frühstück angerichtet hatte. Sie stellte das Tablett auf den Tisch und wollte zurück in die Küche gehen, aber Kimberly hielt sie zurück.
»Ich glaube nicht, dass in diesem Haus vom Tablett gegessen wird«, sagte sie. »Können Sie die Sachen bitte noch auf den Tisch stellen?«
Gertrude wandte sich erneut um, nahm die Müslischale, den Joghurt und den Kaffee vom Tablett und stellte alles auf den Tisch. Die alte Frau blickte an Kimberly vorbei zu Ezra und sagte: »Ich werde nachher noch einkaufen gehen. Magst du immer noch diese Kekse, die du als Schuljunge so gerne gegessen hast? Ich kann dir welche mitbringen.«
»Gerne«, sagte Ezra. »Die habe ich schon ewig nicht mehr gegessen.«
Wie lange, fragte Kimberly sich, würde sie sich diese Spielchen noch bieten lassen müssen? Sie hatte Sam, so gut es ging, umgemodelt, aber mit seinem Haushalt war es eine andere Sache. Diese ganzen alten Bediensteten der Familie, Gertrude, die Köchin Trina, dieser Chauffeur Onkel Maury, kamen ihr vor wie die Dorfbewohner in einem der alten Frankensteinfilme. Wenn sie ihre Freundinnen, ihre neuen Freundinnen wohlgemerkt, zu Hause besuchte, sah sie dort Dienstpersonal in ordentlichen Uniformen, die wussten, wie man die Herrschaften bediente und sich zu benehmen hatte. Kimberly dagegen fühlte sich in Gegenwart ihrer Angestellten nicht nur unbehaglich, sondern hatte auch, wie sie zugeben musste, Angst vor ihnen. Wenn sie Jiddisch sprachen oder was immer das war, während sie sich mit ihr in einem Raum aufhielten, wusste Kimberly verdammt gut, dass sie dann über sie sprachen.
Es war Zeit, zum Kern der Sache zu kommen. »Ezra«, sagte sie und glättete die Serviette über ihrem prallen Schoß, »hast du jemals in Betracht gezogen, für deinen Dad zu arbeiten?« Das war ihr ganz persönlicher Albtraum. »Möchtest du, dass ich deswegen mit ihm rede?« Sie vermutete, dass es auch Ezras übelster Albtraum war.
Ezra sah sie an, und sie hatte das Gefühl, dass er geradewegs durch sie hindurch schaute. Aber das bekümmerte sie nicht allzu sehr. Sie hatten beide von Anfang an mit offenen Karten gespielt. Noch während es mit der ersten Mrs Metzger in der Sloan-Kettering-Krebsklinik immer mehr bergab gegangen war, hatte sie ein Verhältnis mit Sam gehabt, und Ezra hatte es herausgefunden. Sie könnte ihm noch so viel erklären: wie sehr sie versucht hatte, Sam dazu zu bringen, noch zu warten. Dass sie sich immer schlecht deswegen gefühlt hatte oder dass das alles einfach so passiert sei. Na ja, vielleicht hatte sie hier und da etwas nachgeholfen, wie das eine Mal, als sie vorgegeben hatte, dass ihr Boss in der Werbeagentur verlangt habe, dass Sam persönlich sein Okay zu mehreren Layouts gäbe. Damit hatte sie eine Ausrede gehabt, ihn in seinem Apartment aufzusuchen – eines Abends, an dem sie rein zufällig einfach umwerfend angezogen war. Aber was sollte das jetzt noch bringen? Das waren alte Geschichten. Und ehrlich gesagt ging es Ezra auch gar nichts an. Es wurde Zeit, dass er erwachsen wurde und endlich darüber hinwegkam.
»Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre«, sagte Ezra, und sie fragte sich, ob er damit meinte, dass er für seinen Dad arbeiten sollte oder dass sie für ihn die Fühler ausstreckte. »Immobiliengeschäfte haben mich noch nie interessiert.«
»Und für was interessierst du dich dann? Was willst du machen, jetzt, wo du wieder in Amerika bist?«
»Meine Arbeit fortsetzen.«
Das schon wieder. »Und was ist das genau?«
»Forschung.«
»Und du kannst diese Forschung hier machen? Musst du dafür nicht wieder zurück nach Israel oder sonst wohin?«
»Nein.«
Kimberlys Herz sank. Dieses Jüngelchen war genauso alt wie ihr Bruder Wayne, auch wenn Wayne ihn mit einem einzigen Schlag zu Mus kloppen würde. Und jetzt plante er womöglich, bis in alle Ewigkeit in dieser Wohnung rumzuhängen. Und das würde ihre Pläne gewaltig durcheinanderbringen. Wenn sie nicht aufpasste, würde es sogar zu mächtigen Verwerfungen führen.
»Oh, wow«, sagte sie, »das sind ja Neuigkeiten.«
Ezra lächelte ironisch. »Darauf wette ich.«
5. Kapitel
An diesem Nachmittag war die Atmosphäre im Labor mehr nach Carters Geschmack. Kein Bill Mitchell, kein Eminem aus dem Ghettoblaster, niemand, der das Elektronenmikroskop in Beschlag genommen hatte. Carter war selten glücklicher als in den Momenten, in denen er etwas Neues zu studieren, zu analysieren und zu klassifizieren hatte und herausfinden musste, um was es sich handelte. Selbst als Kind war er schon so gewesen. Seit dem Tag, an dem seine Eltern ein zusätzliches Zimmer anbauen lassen wollten, wusste er, wozu er im Leben berufen war. Der Bulldozer, der einen tiefen Graben für das Fundament ausheben sollte, buddelte dabei einen rostigen Löffel und ein paar Knochenbruchstücke aus der Erde. Man hätte meinen können, er hätte Edelsteine und Diamanten zutage gefördert. Carter war damals zehn Jahre alt. Am nächsten Morgen rannte er zur Schule, um die Fundstücke seinem Naturkundelehrer zu zeigen, der sich allerdings nicht davon beeindrucken ließ. Aber seine Klassenkameraden hatten seine Begeisterung geteilt, besonders als er behauptete, die Knochen seien alt genug, um von einem Dinosaurier stammen zu können. Woher der Löffel stammte, war ihm egal. Von diesem Tag an hatte er den Spitznamen »Bones«, Knochen. So begannen seine Freunde ihn zu nennen, und es gefiel ihm tatsächlich. Selbst heute nannten seine Studenten ihn manchmal »Professor Bones«, wenn sie unter sich waren.