Das Restaurant war nur ein paar Blocks entfernt, und als er ankam, entdeckte er Beth und die Hammonds an einem Tisch in der Nähe der Bar, wo sie sich einen Vorspeisenteller teilten.
»Gut, dass ihr nicht gewartet habt«, sagte Carter, beugte sich vor und küsste Beth auf die Wange.
»Das wäre uns nie in den Sinn gekommen«, sagte Ben und spießte eine Olive auf.
Carter lachte, zog den freien Stuhl hervor und setzte sich. Auf dem Tisch stand eine halbleere Karaffe mit Wein, und er schenkte sich ein Glas ein. Ben trug immer noch seinen Banker-Anzug, und Abbie, die bei einer Agentur arbeitete, deren Name Carter sich nie merken konnte, trug ein Kostüm, rot mit weißen Biesen an Revers und Kragen. Auf Carter wirkte sie, als wollte sie für eine Rolle als Gattin des Weihnachtsmanns vorsprechen.
»Was ist in dem Päckchen?«, fragte Abbie. »Du klammerst dich daran, als sei es das Gewinnerlos der Fernsehlotterie.«
»Ach, nur etwas Arbeit für später.«
Aber Beth, die in ihm lesen konnte wie in einem offenen Buch, legte den Kopf schräg und lächelte neugierig. Sie wusste, dass mehr dahintersteckte.
»Was ist das hier?«, fragte Carter in der Hoffnung, das Thema zu wechseln, und deutete auf einen Haufen Fotos, die auf dem Tisch verteilt lagen. Auf einem erkannte er eine kurvenreiche Landstraße, auf dem nächsten ein altes Farmhaus mit breiter Veranda.
»Sie haben sich ein Landhaus gekauft«, sagte Beth begeistert. »Im Norden.«
»In Hudson«, erklärte Abbie stolz. »Mit anderthalb Hektar Land und einer alten Apfelplantage.«
»Nicht zu vergessen die Scheune, die demnächst umfällt«, fügte Ben hinzu.
»Super«, sagte Carter, besah sich die Fotos vom Haus, das klein, aber gut erhalten wirkte. In der Ferne sah man eine niedrige Bergkette. »Ich wollte schon immer mal öfter aus der Stadt raus, aber ich wusste nie, wohin.« Er schaute Ben und Abbie an und sagte: »Vielen, vielen Dank. Ich bringe auch meine eigenen Marshmallows mit.«
»Und vergiss die Cracker und die Schokolade nicht«, sagte Abbie.
Beth hob ihr Glas, um einen Toast auszubringen. »Auf die Großgrundbesitzer!«
»Salud!«, sagten alle und stießen an, als sich der Kellner mit den Speisekarten näherte.
Nachdem sie sich die Tageskarte angesehen und bestellt hatten, erzählten die Hammonds noch mehr von dem Haus. Sie waren schon seit Monaten auf der Suche. »Wir brauchen unbedingt einen Platz außerhalb der Stadt«, sagte Abbie, »um mal abzuschalten.«
Carter glaubte allerdings, den wahren, unausgesprochenen Grund zu kennen, weshalb sie sich das Haus gekauft hatten. Es sollte von den Schwierigkeiten ablenken, die sie damit hatten, ein Kind zu bekommen, was er sehr gut nachvollziehen konnte. Und tatsächlich, schon bald unterhielten Beth und Abbie sich über Dr. Weston. Abbie hatte ihn zuerst konsultiert, und jetzt steckten sie die Köpfe zusammen und sprachen konzentriert miteinander. Nicht zum ersten Mal bewunderte Carter die Intensität ihrer Freundschaft. Soweit er beurteilen konnte, gab es nichts unter der Sonne, über das Beth und Abbie nicht miteinander reden konnten, und vermutlich gab es auch nichts, worüber sie nicht schon geredet hatten. Im Barnard-College waren sie Zimmergenossinnen gewesen, und seitdem waren sie einander die beste Freundin. Selbst als Beth für ein Jahr nach England gegangen war, um am Cortauld College Kunstgeschichte zu studieren, hatte Abbie ein Sloan-Stipendium an der London School of Art ergattert. Ihr ursprüngliches Ziel war es gewesen, selbst Künstlerin zu werden, eine abstrakte Expressionistin, die nächste Lee Krasner. Aber das hatte nicht so richtig geklappt. Stattdessen hatte sie sich schließlich für einen lukrativen, aber geistig weniger anspruchsvollen Posten als Art Director in einer Werbeagentur entschieden.
Ben und Carter waren bei dieser Beziehung nur Anhängsel, und das wussten beide. Während ihre Frauen lachten und schwatzten und sich weiterhin leise berieten, suchten die Männer höflich nach einem Thema, über das sie reden könnten. Es war nicht so, dass sie einander nicht gemocht hätten. Sie waren sich sehr wohl sympathisch, aber ihre Lebensläufe und Berufe, selbst ihre Interessen waren ziemlich verschieden.
Ben entstammte einer begüterten Familie aus dem Main Line Viertel in Philadelphia, hatte in Exeter studiert, als Jahrgangsbester an der Wharton Business School seinen Abschluss gemacht und legte seitdem eine steile Karriere als Investmentbanker hin.
Carter nannte seine Familie mittlerweile »bequeme Unterschicht«, natürlich nur, wenn sie nicht in Hörweite waren. Sein Vater hatte einen Milchlaster einer Molkereikette in Nord-Illinois gefahren, und seine Mutter war zu Hause geblieben, um Carter und seine vier Brüder und Schwestern großzuziehen. Einen Großteil seiner Kindheit hatte er krank zu Hause gelegen. Als kleiner Junge hatte er die üblichen Kinderkrankheiten durchgemacht, Mumps, Masern, Windpocken, aber er hatte auch unter etwas gelitten, das eine Art Asthma zu sein schien. Er sagte stets, »zu sein schien«, denn als er ins Teenageralter kam, verschwanden die Beschwerden auf mysteriöse Weise. Seitdem hatte er sich Mühe gegeben, die verlorene Zeit wieder wettzumachen, indem er kletterte, Ski fuhr und die ganze Welt bereiste. Zu jedermanns Erstaunen, einschließlich seines eigenen, bekam er ein großzügiges Stipendium in Princeton. Er packte die Gelegenheit beim Schopfe und blickte nie zurück.
Doch erst in den letzten Jahren, nachdem er seine bemerkenswerten Funde auf Sizilien gemacht hatte, war er in die Riege der Spitzenkräfte in seinem Fachgebiet aufgestiegen. Der Lehrstuhl, den Carter an der New York University innehatte, war ein heißbegehrter Posten, was zum Teil daran lag, dass Mr Kingsley, nach dem der Lehrstuhl benannt war, eine hinreichend ausgestattete Stiftung hinterlassen hatte, um dem Lehrstuhlinhaber ein respektables Gehalt zahlen zu können. Carter war nicht wegen des Geldes in das Knochengeschäft eingestiegen, das würde niemand tun, der bei klarem Verstand war. Aber letztendlich, so musste er einräumen, hatten die Knochen ihm ziemlich viel Glück gebracht.
Während er und Ben von Büchern und Filmen auf die Außenpolitik kamen, fiel es Carter immer schwerer, sich zu konzentrieren. Er tat sein Bestes, um seinen Teil zur Unterhaltung beizutragen, aber mit den Gedanken kehrte er immer wieder zu dem Päckchen von FedEx zurück, das unter seinem Stuhl lag. Am liebsten wäre er nach Hause gerannt, hätte den Umschlag aufgerissen und herausgefunden, wovon Russo geredet hatte. Als Carter als erster Forscher die Knochengrube entdeckt und ausgegraben hatte, war Giuseppe Russo, damals noch Doktorand der Paläontologie, buchstäblich seine rechte Hand gewesen. Einmal, als Carters Seil sich unerklärlicherweise aus dem Karabiner gelöst hatte, hatte Joe ihn in letzter Sekunde am Kragen seines Ponchos gepackt und hinauf auf festen Boden gezerrt. Carter konnte sich noch gut an das Gefühl erinnern, wie er über einem grausigen Haufen prähistorischer menschlicher Knochen mitten in der Luft im engen Schacht geschwebt hatte, den sie mehr als zwanzig Meter tief in die Erde gegraben hatten. Ohne Joe hätte er sich damals zu den anderen sterblichen Überresten gesellt, genauso mausetot.
Als die Dessertkarte kam, waren zum Glück alle viel zu vollgegessen, um auch nur darüber nachzudenken. Carter betete, dass niemand noch einen Kaffee oder einen Drink bestellen würde, und sein Flehen wurde erhört. Ben sagte tatsächlich, er müsste noch einmal ins Büro. Draußen trennten sich ihre Wege, und Beth hakte sich bei Carter unter, als sie nach Hause gingen.
»Also«, sagte sie. »Ich sterbe fast vor Neugier. Was ist in diesem geheimnisvollen Umschlag?«
»Das werde ich wissen, wenn wir zu Hause sind«, sagte er. »Aber er ist von Joe Russo.«
»Der Typ, mit dem du auf Sizilien zusammengearbeitet hast?«
»Ja. Er sagt, er habe etwas gefunden, etwas, das er für merkwürdig genug hält, damit ich einen Blick darauf werfen soll.«