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»Möchte er, dass du hinfliegst?«, fragte sie und klang besorgt.

»Soweit ich weiß nicht. Aber meinst du nicht, dass du dort genügend Renaissance-Kunst findest, um dich ein paar Wochen lang zu beschäftigen?«

»Das ist es nicht«, entgegnete sie, als sie an der Bleecker Street an der Ampel warteten. »Ich könnte im Moment nicht aus der Galerie weg, und wenn du allein fährst, wie sollen wir dann …?«

Carter begriff. »Ach so, das. Ich könnte dir ein paar Proben im Kühlschrank dalassen.«

»Du bist immer so romantisch. Übrigens, das wollte ich dir noch sagen: Dr. Westons Praxis hat angerufen. Nächsten Samstag hast du einen Termin. Morgens.«

Um seine Zeugungsfähigkeit testen zu lassen. Carter dachte mit Schrecken daran, während sie die letzten paar Blocks nach Hause gingen. Er spürte bereits Versagensängste in sich aufsteigen.

Ihre Wohnung im zweiten Stock eines alten roten Backsteingebäudes wies direkt auf den Washington Square Park. Bei den irrsinnigen Immobilienpreisen in Manhattan würde sie normalerweise mehrere tausend Dollar im Monat kosten. Aber zum Glück gehörte das Haus der Universität, welche die Wohnungen günstig an Fakultätsmitglieder vermietete.

Carter schloss die Tür auf und schaltete das Licht an, während Beth ihren Mantel an den hölzernen Garderobenständer im Foyer hängte.

»Willst du zuerst unter die Dusche?«, fragte sie.

»Nein, geh du nur«, sagte er und riss bereits den Umschlag von FedEx auf.

»Das hatte ich mir schon gedacht.«

Carter ging ins Wohnzimmer und ließ sich in seinen Lieblingssessel fallen, einen abgenutzten Lederlehnsessel, den er seit seiner Studentenzeit besaß. Er riss den Umschlag beinahe in zwei Hälften. Aus einer Mappe rutschten ein paar Hochglanzbilder auf seinen Schoß, und er musste rasch danach greifen, ehe sie zu Boden fielen. Mit dem Fuß zog er den Couchtisch näher heran und schüttete alles auf die marmorierte Tischplatte.

Obenauf lag ein getippter Brief mit dem Briefkopf der Universität von Rom, nach dem er als Erstes griff. »Dottore«, begann er. So hatte Joe ihn stets angeredet. »Ich schicke dir zur Kenntnisnahme alle beigefügten Proben. Und meine Grüße. Und jetzt erzähle ich dir die Geschichte von diesen Sachen, die dich, wie ich denke, sehr interessieren wird, und dann reden wir darüber.« Sein Englisch hatte sich enorm verbessert, hatte jedoch immer noch diese wunderbar gestelzte Art. Joe benutzte zum Beispiel keine Kurzformen, aber bisher war das Schreiben vollkommen verständlich. Carter überflog den Rest des sechsseitigen, einzeilig bedruckten Briefes, ehe er wieder zum Anfang zurückblätterte.

Die Schilderung begann, seltsam genug, mit einem Bericht über die Wasserstände eines Ortes namens Lago d’Averno, von dem Carter noch nie gehört hatte. Offensichtlich war der Wasserspiegel des Sees auf den tiefsten Stand seit vielleicht mehreren Millionen Jahren gefallen. Eine Höhle, die die ganze Zeit unter Wasser gelegen hatte, möglicherweise sogar Hunderte von Metern tiefer als heute, war durch die seismischen Aktivitäten in dieser Region langsam nach oben geschoben und so zum ersten Mal zugänglich gemacht geworden. Ein junges amerikanisches Paar waren die Ersten, die zufällig darauf stießen. In Klammern hatte Joe hinzugefügt, dass der Mann dort verunglückte und ertrank.

In dieser Höhle hatte man eine versteinerte Kreatur entdeckt. Joe entschuldigte sich für den Gebrauch des vagen Begriffs Kreatur, erklärte jedoch, dass genau diese Ungewissheit der Grund dafür sei, warum er seinen alten Freund Carter in erster Linie kontaktiere. »Aus den Teilen des Fossils, die wir sehen können, ist es nicht klar, womit wir es zu tun haben.« Es gäbe etwas, das aussähe wie erweiterte Klauen, fuhr der Brief fort, was die Vermutung nahelegte, dass es sich um ein Raubtier mittlerer Größe handelte, aber diese Klauen schienen ebenso über deutlich ausgebildete Mittelhandknochen und Fingerglieder zu verfügen. Merkmale also, die nur auf einen hominiden Vorfahren hindeuten konnten. »Aber ein Hominid, der im evolutionären Zeitplan viel zu alt ist, um möglich zu sein.«

Carter verstand bereits, warum Joe so verwirrt war. Aber warum unterzogen sie die Probe nicht einem einfachen Carbon-14-Test und warteten ab, was dabei herauskam? Damit hätte Carter angefangen.

Doch offensichtlich hatte Joe das auch getan. Schon im nächsten Absatz las Carter: »Wie man es erwarten darf, haben wir die vorschriftsmäßigen Radiocarbon-Datierungen durchgeführt. Da wir hier keinen Zugang zu einem Beschleuniger-Massenspektrometer haben« – kurz AMS, die, wie Carter wusste, außerhalb der Vereinigten Staaten kaum zu finden waren –, »haben wir fünf Gramm reinen Kohlenstoff vom Ausgangsmaterial isoliert und wiederholt Untersuchungen damit durchgeführt. Die Laborberichte dieser Testreihe sind beigefügt, siehe Anhang A.«

Carter blätterte in den Unterlagen, bis er den Anhang gefunden hatte. Es war die typische Darstellung, ein komplexes Diagramm mit den elementaren Zusammensetzungen und Zerfallsraten der Isotope, aber Carters Finger flog über die Seiten, bis er zu den Ziffern kam, nach denen er gesucht hatte, der abschließenden Altersschätzung. Und diese Zahl, das stimmte, ergab absolut keinen Sinn. Die Methode funktionierte, wenn sie funktionierte, weil das Radiocarbon-Isotop Carbon-14, das in allen organischen Stoffen vorhanden war, egal ob es sich um Holz, Pflanzenfasern, Muscheln oder Tierknochen handelte, gleichmäßig alle 5730 Jahre zu fünfzig Prozent zerfiel. Wenn man über eine ausreichend große Probe verfügte, wie beispielsweise die fünf Gramm, die Joe hatte, bekam man eine ziemlich genaue Schätzung über das Alter selbst der frühesten prähistorischen Funde. Die berühmten Höhlenmalereien von Lascaux zum Beispiel wurden auf 15 000 bis 17 000 Jahre geschätzt. Es gab immer eine kleine Fehlerspanne, da Carbon-14 im Laufe der Geschichte nicht immer in gleichen Mengen produziert worden war, so dass die Radiocarbon-Datierung noch »korrigiert« oder »kalibriert« werden musste, um den chronologischen Schwankungen Rechnung zu tragen. Als Ergebnis blieb eine Diskrepanz von vielleicht ein paar hundert, in seltenen Fällen von ein paar tausend Jahren.

Doch selbst bei einem Spielraum von ein paar tausend Jahren ergaben Joes Berechnungen keinen Sinn, besonders dann nicht, wenn er immer noch erwog, dass es sich bei dem Fund möglicherweise um einen Hominiden handelte. Dieses Fossil vom Lago d’Averno hatte laut der Radiocarbon-Datierung vor Millionen von Jahren gelebt, lange bevor die allerersten Vorfahren der Menschheit auf der Erde herumliefen oder auch nur krochen.

Obwohl er noch nicht genau bestimmen konnte, wo sich der Fehler eingeschlichen hatte, entschied Carter, dass die Ergebnisse so fehlerhaft sein mussten, dass sie nutzlos waren. Es blieb nichts anderes übrig, als sie vollkommen außer Acht zu lassen.

Er blätterte zurück zum Brief. Dort räumte Joe ebenfalls ein, dass er mit der üblichen Radiocarbon-Methode nicht weiter vorankam.

Als nächsten Schritt hätte Carter die umgebende Gesteinsformation der Fundstelle analysiert, um anhand des Alters und der Zusammensetzung des Felsens, in den der Fund eingebettet war, herauszufinden, um was für ein Fossil es sich handelte oder handeln könnte. Offensichtlich war Joe zu demselben Schluss gekommen. »Die Ergebnisse der Untersuchung des umgebenden Felsens befinden sich im Anhang B.«

Wieder überprüfte Carter Joes Arbeit, und wieder konnte er keine offenkundigen Fehler oder Versäumnisse entdecken. Joe hatte die Arbeiten genau nach Lehrbuch erledigt. Trotzdem waren die Ergebnisse auch dieses Mal absolut rätselhaft. Das Felsgestein war vulkanischen Ursprungs und stark mit Pyroxenen durchsetzt, so viel war klar. Doch dem erstaunlich hohen Anteil an Silizium, seiner Streifung und Dichte nach zu urteilen, war es aus einem nahezu unglaublich tiefen und heißen Bereich der Erdkruste spiralförmig an die Oberfläche gedrückt worden. Im Inneren des Felsens, gleichsam als Mahnung an diesen gewundenen Weg von der Asthenosphäre durch die äußere Kruste hindurch, fand sich eine ungewöhnlich hohe Konzentration eingeschlossener, flüchtiger Gase. Carter ließ sich in seinem Sessel zurücksinken und dachte kurz darüber nach. Im Endeffekt hatten sie es hier mit einer unermesslich beständigen und dichten Gesteinsprobe zu tun, die wie eine selbstgebastelte Bombe vor den Augen explodieren konnte, wenn man sie nicht richtig behandelte. Wie eine ziemlich gewaltige selbstgebastelte Bombe.