Kein Wunder, dass Joe zögerte weiterzumachen, ehe er sich ausgiebig mit Kollegen beraten hatte.
Das Problem lag darin, einen Weg zu finden, das Fossil in einem möglichst intakten Zustand aus dem explosiven Gestein zu entfernen, mit dem es unter Umständen unlösbar verbunden war, ohne die Bombe zu zünden.
»In der Pappmappe«, schrieb Joe, »findest du Fotos von dem Fossil in situ.«
Darauf hatte Carter gewartet. Als die Fotos ihm entgegengefallen waren, hatte er sie absichtlich wieder zurückgelegt. Er wollte sie nicht ansehen, ehe er das übrige Material gesichtet hatte und wusste, womit er es zu tun hatte. Inzwischen wusste er, was bereits feststand, und was, in diesem besonderen Fall, noch in der Schwebe hing, und erst jetzt war er bereit, einen Blick auf die sichtbaren Beweise zu werfen und sich selbst ein Bild davon zu machen. Er beugte sich vor und öffnete die Mappe auf dem Tisch.
Das oberste Bild war so wunderschön, dass es aus einer Reisebroschüre hätte stammen können. Im Vordergrund sah man nichts als blaues Wasser mit kleinen Wellen, und im Hintergrund eine Wand aus schroffen grauen Klippen mit vom Wind gebeugten Zypressen. Auf Seehöhe lag der Eingang einer Höhle, die immer noch teilweise unter Wasser lag und auf dieser Aufnahme kaum zu erkennen war. Carter schaute auf die Rückseite des Fotos, wo Joe das Datum notiert und dazugeschrieben hatte: »Lago d’Averno, Höhle, aus etwa 150 Metern Entfernung.«
Carter legte das Bild mit der Vorderseite nach unten auf den Tisch und nahm das nächste zur Hand.
Bei diesem hatte der Fotograf sich der Höhle schon viel weiter genähert. Die Öffnung war rau und zerklüftet, und an einer Seite waren die Köpfe zweier Taucher mit Taucherbrillen und Schnorcheln zu sehen. Auf der Rückseite stand »Eingang zur Höhle«, was kaum nötig gewesen wäre, doch in Klammern war hinzugefügt: »Wusstest du, dass ich tauchen kann?« Carter lächelte. Nein, dass Joe tauchen konnte, war ihm neu.
Die nächsten Fotos zeigten das Innere der Höhle, die offensichtlich von einer starken Taschenlampe beleuchtet worden war. Die nassen Wände und Decken waren in helles Licht mit scharfem Schatten getaucht, und der Fels glitzerte wie Pyrit und Diamanten. Von dem Fossil hingegen sah Carter nichts.
Er nahm sich das nächste Bild, und dieses Mal stockte ihm der Atem. Im harten hellen Licht der Lampe, die teilweise in der linken oberen Ecke zu erkennen war, konnte er jetzt die vom Felsen eingeschlossenen Knochen erkennen. Er hatte Tausende solcher Fotos gesehen, von Fossilien aus allen Teilen der Welt, aber so etwas war ihm noch nie untergekommen. Unwillkürlich erinnerte ihn der Anblick an Michelangelos Jüngstes Gericht in der Sixtinischen Kapelle. Dieses Fossil mit den knotigen langen Klauen, oder Krallen, oder Fingern beschwor die Vorstellung von sich windenden Figuren herauf, die sich in der Phantasie des Künstlers in der Hölle tummelten. Es war fast, als läge diese Kreatur im Sterben, leide über das erträgliche Maß hinaus und kämpfe darum, wieder freizukommen. Ein Teil der Gliedmaßen war erkennbar oder zumindest als vager Umriss auszumachen, aber das war auch schon alles. Gleichwohl spürte Carter immer noch die höchst instinktive und überwältigende Reaktion der Kreatur. Sieh an, dachte Carter, ich benutze dasselbe Wort wie Joe.
Es gab noch mehr Fotos, von verschiedenen Winkeln aus aufgenommen, aber sie zeigten nichts Neues mehr von dem Fossil. Der Rest war und blieb im Felsen verborgen. In der nächsten Bildfolge war das Fossil selbst sorgfältig verhüllt und zugedeckt, während Arbeiter in Taucheranzügen dabei waren, einen Teil der Wand zu markieren. Sie bohrten Löcher, um den Druck zu mindern, und lockerten den Felsen mühselig mit Anschlaghämmern, elektrischen Bohrern und Handpickeln. Die letzten Bilder zeigten, wie ein Forschungsschiff, auf dessen Achterdeck ein Kran montiert war, die Felsplatte fortschleppte, die inzwischen durch eine Plattform aus sechs riesigen gelben Pontons gesichert war. Joe und der andere Taucher, ohne Masken, aber immer noch im Taucheranzug, standen links und rechts der Felsplatte. Sie hatten die Beine gespreizt und die Hände auf den Felsen gestützt, wie Großwildjäger neben der erlegten Trophäe.
Auf dem letzten Foto der Mappe sah man die Felsplatte unter einem Kunststoffbaldachin. Sie ruhte, gestützt von einem halben Dutzend Stahlböcken, anscheinend in einem offenen Innenhof. Auf die Rückseite hatte Joe geschrieben: »Halle der Biologischen Fakultät, Universität von Rom«. Dann folgten die Daten der Probe. »Der Fossilblock ist 3,5 Meter lang, 3,5 Meter breit und 2,5 Meter tief.« Oder, in Fuß, zehn auf zehn auf sieben. Das Gewicht betrug 1,25 Tonnen oder, wie Carter rasch überschlug, rund 3300 Pfund. Egal, welche Maßstäbe man anlegte, es war ein gewaltiges und gewaltig schwerfälliges Exemplar.
Carter legte das letzte Foto zurück und nahm noch einmal Joes Brief zur Hand. Die letzte Zeile lautete: »Es ist meine beachtliche Meinung, dass die ungewöhnlichen Merkmale nahelegen, dass es sich um einen Fund von großer wissenschaftlicher Bedeutung handelt.«
Das konnte man wohl sagen.
Carter lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah auf die Uhr. Zu seiner Überraschung war es bereits fast Mitternacht. Dann fiel sein Blick erneut auf das Foto, das im Inneren der Höhle gemacht worden war, dasjenige, auf dem die Kreatur sich aus dem Felsen herauszugraben schien. Es war ein Bild, von dem er wusste, dass er es nie wieder würde vergessen können. Er stand auf und schaltete das Licht aus. Doch bevor er ins Bett ging, hielt er inne und drehte das Foto um, so dass es mit der Vorderseite zum Tisch zeigte.
Warum, fragte er sich, irgendwie von sich enttäuscht, hatte er das getan?
6. Kapitel
»Es muss schwierig für Sie sein, nach so vielen Jahren in der Ferne wieder zurückzukommen«, sagte Dr. Neumann, legte ihre Finger aneinander und musterte Ezra mit ihrem vorsichtig neutralen Blick. »Wie geht es Ihnen damit?«
Wie es ihm damit ging? Gut, dachte Ezra. Ganz gut – solange sich ihm niemand in den Weg stellte und man ihn in Ruhe ließ, damit er tun konnte, was er tun musste. »Es ist eine Umstellung«, sagte er in der Annahme, es sei eine vollkommen befriedigende Antwort, weder negativ noch positiv.
»Natürlich.« Sie lächelte und schwieg, aber er kannte den Trick. Das war ihr Psychotherapeutenlächeln, mit dem sie einen dazu bringen wollte, sich ihr anzuvertrauen. Das Schweigen sollte mit der Zeit so unangenehm werden, dass man es unbedingt brechen wollte und dabei alle möglichen Geheimnisse ausplauderte. Nein, es hatte sich nicht viel geändert. Nicht einmal die abstrakten Drucke an den Wänden ihrer Praxis, das leise Summen der Heizung oder die Position der beiden Sessel, in denen sie saßen. Er fühlte sich, als sei er zwanzig Jahre in der Zeit zurückgereist, bis zu dem Moment, in dem er ihr zum ersten Mal begegnet war. Kurz nachdem der Direktor der Horace Mann School seine Eltern darüber informiert hatte, dass Ezra, trotz seiner astronomisch guten Werte beim IQ-Test und allen anderen üblichen Leistungstests, sich nicht, nun ja, so recht anpasste. Weder akademisch noch sozial.
»Wie kommen Sie mit Ihrem Vater zurecht? Hat sich Ihre Beziehung zu ihm verbessert?«
»Wir gehen einander aus dem Weg«, sagte Ezra, »so gut es geht.« Das entsprach der Wahrheit. Sein Vater hielt sich entweder in seinem Büro in der Madison Avenue auf, wo er herummauschelte und Ränke schmiedete, um sich auch noch die letzten Fitzelchen der Stadt unter den Nagel zu reißen, die er nicht bereits besaß. Oder er war auf einer Veranstaltung der feinen Gesellschaft, zu der Kimberly ihn mitschleifte.