»Sie haben jetzt doch auch eine Stiefmutter, war es nicht so? Ich meine mich zu erinnern, in der Zeitung gelesen zu haben, dass Ihr Vater wieder geheiratet hat.«
Jetzt, dachte Ezra, wurde sie unaufrichtig. Natürlich wusste sie, dass sein Dad wieder geheiratet hatte. Wahrscheinlich wusste sie über sein Treiben besser Bescheid als Ezra. In der ganzen Zeit in Israel hatte er penibel alle New Yorker Zeitungen gemieden, und er hatte nie jemandem verraten, dass er Sam Metzgers Sohn war, es sei denn, es ließ sich nicht vermeiden.
»Ja, er hat eine neue Frau. Ihr Name ist Kimberly«, sagte er. Nervös umklammerten seine Finger die Plastiktüte in seinem Schoß. Wann bekäme er endlich die Gelegenheit, auf den wahren Grund zu sprechen zu kommen, warum er diesen Termin vereinbart hatte?
»Wie ist Ihr Verhältnis zu ihr?«
Ezra konnte beinahe überhaupt nicht antworten. Er war dieser Sache so überdrüssig, wollte das alles nicht durchexerzieren, wollte keine Fragen über seine Familie, seine Gefühle und seine Zukunft beantworten. Er hatte sich diesen Termin geben lassen, weil seine Medikamente zur Neige gingen, und solange er kein neues Rezept bekäme, würde es ihm verdammt schwerfallen, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Oder zu schlafen. Oder seine Stimmungsumschwünge in den Griff zu bekommen. Er brauchte einfach Nachschub.
»Sie ist in Ordnung. Sie sehe ich auch nicht oft.« Und weil er glaubte, dass es der guten Frau Doktor gefallen würde, und weil er das Gefühl hatte, ein wenig mehr Interesse zeigen zu müssen, fügte er hinzu: »Es ist eher so, als sei da plötzlich eine ältere Schwester im Haus. Sie ist nur ein paar Jahre älter als ich.«
»Tatsächlich?«, sagte Dr. Neumann und nickte langsam. »Wie interessant.«
Verdammt, dachte Ezra. Sie hat angebissen. Jetzt hatte er unbeabsichtigt schlafende Hunde geweckt. Neumann wäre glatt in der Lage, diese Bemerkung mehrere Sitzungen lang auszuschlachten. Und wann würde er sie endlich da haben, wo er sie schon jetzt haben wollte?
»Was meinen Sie, welche Auswirkungen das auf Ihre Beziehung zu Ihrem Vater hat? Wenn Sie Kimberlys Einfluss darauf beschreiben müssten, würden Sie eher sagen, sie baut eine Brücke oder eine Mauer zwischen Ihnen beiden?«
»Auf diese Weise habe ich noch nie darüber nachgedacht«, sagte Ezra und versuchte, seine Stimme frei von Geringschätzung zu halten. Er hatte keine Ahnung, wo diese Fragerei hinführen sollte, und Neumann konnte bis in alle Ewigkeit mit diesen dämlichen Metaphern und sinnlosen Fragen weitermachen. Erneut fingerte er an der Tasche auf seinem Schoß herum, und dieses Mal geruhte sie, davon Notiz zu nehmen.
»Ich habe das Gefühl, dass Sie abgelenkt sind, Ezra«, sagte sie mit einer gewissen Schärfe. »Dass es etwas gibt, das wir zunächst benennen und klären müssen. Was ist in der Tasche, die Sie da festhalten?«
Ezra versuchte, nicht zu ungeduldig zu wirken, als er hastig die Schleife der Plastiktüte löste. »Das hier sind die Medikamente, die ich in Israel bekommen habe«, sagte er, holte die Gläschen heraus und stellte sie auf den kleinen Tisch neben Dr. Neumanns Sessel. Die Etiketten waren auf der einen Seite auf Hebräisch und auf der anderen Seite auf Englisch beschriftet. »Alles, was ich brauche, sind neue Rezepte.«
Dr. Neumann nahm ihre Lesebrille vom Tisch, setzte sie auf und nahm die Fläschchen in die Hand. »Ihr Arzt dort drüben hieß Stern?«
»Ja, Herschel Stern.«
»Ich würde gerne Kontakt mit ihm aufnehmen und seine Berichte lesen.«
»Kein Problem. Ich kann Ihnen seine Nummer geben.«
»Aber wahrscheinlich kann ich Ihnen fürs Erste ein neues Rezept ausstellen«, sagte sie und warf einen Blick auf das, was er als das Glas mit den Xanax erkannte. »Wir werden die Dosis neu einstellen, sobald wir in der Therapie weitergekommen sind.«
Soweit es Ezra betraf, waren sie bereits genau an dem Punkt, der ihn interessierte. Aber er wusste, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um das zu sagen. Als sie nach ihrem Block griff und die Rezepte ausfüllte, vollführte sein Herz einen Luftsprung.
Draußen lehnte Onkel Maury rauchend an der Parkuhr. »Wie ist es gelaufen?«, fragte er und schmiss die Zigarette in den Gulli. »Bist du endlich gesund?«
»Ich werde es sein«, sagte Ezra und wedelte mit dem Bündel Rezepte herum.
Auf dem Heimweg hielten sie bei der ersten Apotheke, an der sie vorbeikamen, und während seine Medikamente geholt wurden, streifte Ezra durch den Laden und suchte all die anderen Dinge auf seiner Liste zusammen, von OP-Handschuhen und Isopropylalkohol bis zu Wattestäbchen und Talkumpuder. Der Rest der Sachen, die er brauchte, ein Zeichentisch und ein Computerstuhl, durchsichtige Schutzhüllen, Schablonenmesser und Bürsten aus Zobelhaar sowie ein Vergrößerungsglas, war heute Morgen geliefert worden. Es musste nur noch ordentlich aufgebaut und anschließend benutzt werden. Er konnte es kaum abwarten, anzufangen.
Zu Hause stellte Ezra erfreut fest, dass alle fort waren; selbst Gertrude war zum Einkaufen oder so. Er eilte den Korridor entlang, schloss die Tür hinter sich ab und machte sich umgehend daran, seine Zimmer umzuräumen. Außer, dass er ein paar Dinge vom Nachttisch räumte, um mehr Platz für seine Lektüre zu haben, beließ er das Schlafzimmer in seinem ursprünglichen Zustand.
Der angrenzende Raum war früher sein Spielzimmer gewesen, und er hatte beschlossen, dass er hier die eigentliche Arbeit erledigen würde. Zuerst räumte er das Bücherregal aus, in dem immer noch die meisten Bücher aus der Schule und dem College standen, alles vom Fänger im Roggen bis zur Norton Anthologie. Anschließend zerrte er das leere Regal hinüber zum Fenster. Wenn seine Quellensammlung aus Israel ankäme, würde er sie dort einsortieren.
An der Stelle, wo vorher das Bücherregal gestanden hatte, baute er den Zeichentisch auf. Zum Glück war das nicht viel Arbeit, er musste nur die Beine befestigen, die Platte im richtigen Winkel einstellen und die Lampe anklemmen. Tisch und Stuhl standen jetzt so weit wie möglich vom Fenster und damit vom Tageslicht entfernt, und das war gut so. Sonnenlicht konnte an Materialien wie denen, mit denen er arbeiten würde, eine Menge Schaden anrichten.
Schließlich brauchte er noch etwas, auf dem er seine Werkzeuge und Arbeitsmaterialien ablegen konnte. Sein Blick fiel auf eine alte Holzkiste neben dem Schrank, in der er früher seine Spielsachen aufbewahrt hatte. Er bückte sich, um sie zu öffnen, und war nicht weiter überrascht, als er seine alten Modellflugzeuge und Comics darin entdeckte. Sogar die Bongos waren noch dort, mit denen er seine Eltern fast in den Wahnsinn getrieben hatte. Er klappte den Deckel wieder zu, zerrte die Kiste hinüber zum Zeichentisch und legte die Tüten mit den Pinseln, dem Alkohol und den Handschuhen darauf. Dann trat er einen Schritt zurück und begutachtete sein Werk.
Nicht übel, dachte er. Überaus brauchbar sogar.
Jetzt stand ihm nichts mehr im Weg. Er konnte wieder mit der Arbeit beginnen.
Er betrat den begehbaren Schrank und griff in das oberste Regal, hinter die zusätzlichen Decken. Seine Finger ertasteten die Papprolle, die er dort versteckt hatte, und zogen sie hervor. Obwohl der Inhalt der Rolle nur wenig wog und nur in Gramm, nicht einmal in Kilogramm messbar war, fühlte es sich an, als hielte er etwas von unvorstellbarem Gewicht in den Händen. Es fühlte sich an, als hätte er den Gipfel des Berges Sinai erklommen und umklammere jetzt die Steintafeln, die einst Moses höchstpersönlich anvertraut worden waren.
Und so viel er wusste, tat er genau das.