7. Kapitel
Obwohl Carters Anruf erst in einer Stunde fällig war, wollte Giuseppe Russo kein Risiko eingehen. Er würde neben dem Telefon warten. Sich hinauszuwagen war im Moment ohnehin keine besonders verlockende Aussicht. In Rom dämmerte es, und aus den schmalen Fenstern seines Büros im obersten Stockwerk des Biologiegebäudes konnte er bereits die riesige Wand aus düsteren grimmigen Wolken sehen, die gegen die Olivenbäume zu stoßen schien und über die alten Ruinen auf dem Monte Palatino hinwegfegte. Seit Tagen braute sich über der Adria ein Sturm zusammen, und jetzt schien er bereit zu sein, seine Urgewalten freizulassen.
Russo setzte sich auf den klapprigen Schreibtischstuhl, was angesichts seiner Größe und der Zerbrechlichkeit des alten Eichenstuhls kein ganz leichtes Unterfangen war, und zündete sich eine weitere Nazionali an. Gott, war er müde. Nur mit Mühe schleppte er sich nachmittags zu seinen Vorlesungen und abends nach Hause. Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er das letzte Mal anständig geschlafen hatte. Nein, das stimmte nicht. Er konnte sich sehr wohl daran erinnern. Es war die Nacht, bevor er das Fossil in der Höhle zu Gesicht bekommen hatte. Das Fossil, das sich jetzt im Hof unter ihm befand. Einerseits glaubte er, dass er sich mit diesem Fund einen Namen machen würde, doch andererseits wünschte er, er hätte niemals auch nur davon gehört. Und diese Seite wurde mit jedem Tag stärker.
Er blies eine Rauchwolke gegen die verblichenen Samtvorhänge. Ein paar voreilige Regentropfen schlugen gegen die Fensterscheibe. Er verstand es einfach nicht. Er war an einem Dutzend Ausgrabungsstätten gewesen, hatte Tausende von Fossilien und Knochenfragmenten in der Hand gehabt, viele von ihnen menschlichen Ursprungs. Aber nie zuvor hatte er so etwas empfunden wie im Moment. Ein nagendes Unbehagen, ein fast greifbares Gefühl des Grauens. Seit seine Finger in der Grotte am Lago d’Averno die nassen Klauen berührt hatten, falls es sich tatsächlich um solche handelte, war sein Geist in Aufruhr und seine Stimmung gesunken. Nachts warf er sich unruhig im Bett von einer Seite auf die andere, und wenn er schließlich einschlief, plagten ihn Albträume. Mehrmals war er schlafgewandelt, etwas, das er seit seiner Kindheit nicht mehr getan hatte. Einmal war er aufgewacht und hatte, zusammengerollt wie ein Hund, unter dem Tisch gelegen.
Und hatte ein Küchenmesser fest umklammert gehalten.
Er drückte die Zigarette im Aschenbecher auf dem Tisch aus und schloss eine Sekunde lang die Augen. Er musste sich überlegen, wie er Carter den Fall darlegen sollte und ihn dazu überreden konnte, ihn bei diesem gewaltigen, aber sonderbaren Unterfangen zu unterstützen. Der zunehmende Wind rüttelte an den Glasscheiben in den bleigefassten Fenstern, und die roten Samtvorhänge raschelten in der Zugluft. Wie ein losgemachtes Boot begannen seine Gedanken abzudriften. Die Heizung in der Ecke zischte und erzeugte mehr Lärm als Wärme, doch unter diesen Geräuschen glaubte er noch etwas anderes zu hören. Ein weit entferntes, unregelmäßiges Klopfen. Das Geräusch von Metall, das auf Stein schlug. Er versuchte es zu ignorieren, aber der Ton war so beharrlich, dass er niemals imstande sein würde, zur Ruhe zu kommen oder sich zu konzentrieren, solange er nicht herausgefunden hatte, was es war, und dem ein Ende bereitete. Wo, fragte er sich, steckte bloß Augusto, der Pförtner, und warum kümmerte er sich nicht darum?
Erschöpft und gereizt ging Russo zur Treppe und lauschte erneut. Das Geräusch kam eindeutig von unten. Die Treppe bestand aus abgewetztem Marmor und schwang sich in einem eleganten Bogen nach unten. Sie erinnerte daran, dass das Gebäude, das jetzt Teil der Universität war, vor mehreren Jahrhunderten als Privatpalast für einen Abkömmling der Medici erbaut worden war. In diesem Moment, als sich die Dämmerung des Samstagabends über die Stadt senkte, lag es verwaist da. Nur ein paar Deckenlichter brannten noch. Es war Russos Aufgabe, sie auszuschalten, ehe er ging. Es sei denn, Augusto wäre noch hier.
Russo hasste es, sich so weit vom Telefon zu entfernen, aber jetzt ertönte das metallische Klopfen erneut, und er musste sich vergewissern, dass es nichts Ernstes war. Eine Hand an dem feingearbeiteten eisernen Handlauf, hastete er die Treppe hinunter in das riesige Vestibül im Erdgeschoss. Weit und breit keine Spur von Augusto oder einem anderen Menschen. Die großen bogenförmigen Türen, die zum Innenhof führten, waren unverschlossen und knarrten im feuchten Wind.
Das Klopfen ertönte erneut. Es kam vom Hof.
Russo knöpfte seine Strickjacke zu, wobei er feststellte, dass etwas Zigarettenasche an der Vorderseite klebte, und stieß eine der schweren Türen weiter auf.
Wie eine Glucke schien der massive schwarze Steinblock in der Mitte des Hofes zu hocken. Er ruhte auf einem halben Dutzend Stahlböcken, eine riesige blaue Plastikplane hing darüber und flatterte und peitschte im Wind. Eines der Seile, mit denen die Plane festgezurrt war, hatte sich gelöst und schlug wie wild hin und her, wobei der Metallkarabiner immer wieder gegen den Felsbrocken knallte.
Zumindest dieses Rätsel war gelöst.
Russo wusste, dass er das Seil nicht so lose lassen durfte, es könnte den Felsen beschädigen.
Widerstrebend betrat er den Hof. Der kalte Wind auf seinem Gesicht kam ihm vor wie Schmirgelpapier, als er sich dem Felsblock näherte. Währenddessen hatte er das eindeutige Gefühl, nicht allein zu sein. Noch jemand schien sich in dem leeren Hof aufzuhalten, und sein Blick wanderte zu den düsteren Kolonnaden auf beiden Seiten.
»Augusto?«, rief er laut. »Sind Sie hier?«
Aber niemand antwortete.
Das Seil schlug so hart gegen das Pflaster, dass der Stein blaue Funken schlug. Russo griff danach, aber der Wind riss ihm das Seil wieder aus der Hand. Er musste aufpassen. Er wartete ein paar Sekunden, bückte sich, packte es erneut und riss es mit aller Kraft an sich. Er fühlte sich an einen Schlangenbeschwörer erinnert, den er einmal gesehen hatte und der seine zischende Kobra an der Kehle gepackt hatte.
»Rompi … la pietra.« Brich den Stein auf.
Wie angewurzelt stand er da, immer noch vorgebeugt, das Seil in der Hand. Sein Kopf war nur wenige Zentimeter vom Fossil entfernt, und er hätte schwören können, dass die Worte aus dem Inneren des Steins gekommen waren.
Aber das war unmöglich.
Er klinkte den Metallkarabiner des Seils in einen Haken am Boden ein, dann trat er mit dem Fuß kräftig dagegen, um sicherzustellen, dass er fest verankert war.
Regen hatte eingesetzt, prasselte auf die Plastikplane und wurde an den Seiten von Windböen daruntergeweht, die sich im Innenhof verfangen hatten. Der Felsen wurde nass.
Russo wollte gerade gehen, als etwas ihn innehalten und sich umdrehen ließ.
Er beugte seinen Kopf dichter an die Oberfläche des Felsens, wie ein Arzt, der den Herzschlag des Patienten abhörte.
»Brich den Stein auf.«
Instinktiv zuckte sein Kopf zurück, sein Herz pochte. Dieses Mal war die Stimme nicht zu überhören gewesen. Im dämmrigen Licht des Hofes konnte er die knochigen Klauen erkennen. Sie waren nicht länger mit dem Felsen verschmolzen, sondern krümmten sich. Und während er voller Entsetzen zusah, begann der Scheitel des runden, nassen und glatten Kopfes von Irgendetwas sich ebenfalls herauszudrücken, als würde das Wesen geboren werden. Russo versuchte, zurückzuweichen, aber es war zu spät. Die Kreatur hatte seinen Ärmel mit ihren Klauen gepackt und zog ihn auf den glänzenden Felsen zu. Hin zu dem Kopf, der jetzt aus dem Stein ausbrach und ihm seine steinernen Augen zuwandte. Russo stöhnte vor Entsetzen auf und hörte ein Klingeln, wie aus meilenweiter Entfernung.
Die roten Samtvorhänge bauschten sich im Wind.
Es klingelte erneut.
Regen prasselte gegen die Fensterflügel.
Er starrte vor sich hin, die Augen weit aufgerissen, als ein greller Blitz den Monte Palatino erhellte.