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Als er sich beruhigt hatte und die Situation kritisch abschätzte, begriff Ezra, dass er sein kleines Refugium vielleicht noch ein klein wenig länger behalten könnte. Er müsste sich nur so weit wie möglich zurückhalten und vielleicht sogar einen Weg finden, sich zu entschuldigen. Auch wenn ihm im Moment nicht einfiel, wie man allen Ernstes behaupten konnte, man habe eine so deutliche Aussage nicht so gemeint. In den letzten Jahren war er häufig ähnlich heftig mit seinem Vater aneinandergeraten wie heute, und seine Stiefmutter würde vermutlich ebenso wie er bestrebt sein, so zu tun, als sei es nie geschehen. Es würde ihr nichts nützen, sich zwischen Sam und seinen Sohn zu stellen, egal, wie zerstritten sie waren.

Natürlich wusste Ezra sehr wohl, dass die meisten normalen Leute in seiner Lage einfach ausziehen und sich eine eigene Wohnung suchen würden, doch für ihn war das nicht so einfach. Er besaß kein Geld, über das er selbst verfügen könnte, oder auch nur eine Kreditkarte. Alles kam von Sam, ausgespuckt von einem der Schmarotzer aus der Buchhaltung, und das Letzte, was Ezra wollte, war, die Dinge aufzurühren und um eine neue Vereinbarung zu bitten. Wenn er ruhig und unbemerkt blieb, wo er war, ließ Sam ihn vielleicht in Ruhe. Wenn er hingegen anfing, um mehr zu bitten, könnte es heikel werden. Womöglich würde sein Vater ihm die Unterstützung ganz verweigern und von ihm verlangen, sich einen Job zu suchen.

Doch was Ezra anging, hatte er bereits einen Job – den wichtigsten auf der Welt.

Als die Wirkung des Xanax einsetzte und ihm diese neue und gelassene Sichtweise bescherte, fühlte er sich entspannt genug, um wieder an diese Aufgabe zu denken. Und an die Arbeit, die er sich für diesen Abend vorgenommen hatte. In der Wohnung war es jetzt still. Soweit er wusste, waren sein Vater und Kimberly ausgegangen, und nichts stand ihm im Weg. Er erhob sich vom Bett und ging zu den Terrassentüren, die auf einen kleinen Balkon führten. Tief unter ihm bildeten die Rücklichter der Autos auf dem FDR Drive ein hellrotes Band in der Nacht, und auf der anderen Seite des Flusses, in Queens, leuchtete ein kaum sichtbares silbernes Kreuz auf dem Turm einer Kirche.

Die Nachtluft war erfrischend. Er war bereit, sich an die Arbeit zu machen.

Er ging wieder hinein, schloss die Türen und zog beide Vorhänge vor. Er hatte Gertrude gebeten, ein zweites Paar aufzuhängen, damit kein Sonnenlicht in den Raum drang. Sie hatte ihn fragend angesehen, ihm aber seine Bitte erfüllt.

Im Arbeitszimmer schaltete er die Lampe an, die er am Zeichentisch befestigt hatte, dann kniete er neben der Spielzeugkiste nieder und öffnete sie mit dem Schlüssel, den er am Boden festgeklebt gefunden hatte. Genau dort, wo er sie versteckt hatte, inmitten der Comics und Bongos, lag die Papprolle.

Er zog den Deckel von einem Ende der Rolle ab und entfernte die billigen Papyrusblätter, die er in einem Souvenirgeschäft gekauft hatte, kurz bevor er den Nahen Osten verlassen hatte. Das oberste zeigte Anubis, den schakalköpfigen Gott, der die Seelen der Toten wog. Als Nächstes kam ein Bild von Osiris, der über alle Kreaturen der Erde und des Himmels herrschte. Doch es war der dritte Gegenstand, in Zellophan gehüllt und um die anderen herumgerollt, auf den es ihm ankam. Diesen holte er so vorsichtig wie möglich aus der Papprolle. Er warf die anderen beiden Blätter beiseite und legte die Zellophanhülle ehrfurchtsvoll auf die saubere, flache Oberfläche des Zeichentisches. Die Platte war nur wenige Grad geneigt, um ihm die Arbeit zu erleichtern.

Nicht, dass es auch nur andeutungsweise einfach werden würde.

Was er da in den Händen hielt, hatte er aus den Archiven der Hebrew University herausgeschmuggelt, wo es darauf gewartet hatte, zusammengesetzt und schließlich erkannt zu werden. Es handelte sich um die Fragmente, Streifen und Fetzen einer Schriftrolle, die zweifelsohne mehr als zweitausend Jahre alt war. Die Pergamentfetzen waren teils miteinander verbunden, teils lose, und zusammengesetzt würden sie den meistgesuchten und unglaublichsten Fund der gesamten Bibelforschung ergeben. Davon war Ezra überzeugt. Andere Schriftrollen vom Toten Meer, die bereits zusammengefügt, übersetzt und gelesen worden waren, verwiesen auf diese Schrift. Es gab sogar eine äthiopische Übersetzung davon aus dem vierzehnten Jahrhundert. Doch diese Version war der Einschätzung der meisten Forscher zufolge von den Kopisten der Kirche über die Jahrhunderte stark überarbeitet worden. Entsetzt über den schonungslos okkulten und zu Spekulationen neigenden ursprünglich aramäischen Text, hatten diese ihre eigenen Urteile mit einfließen lassen und alles ausgelassen, was ihren Unmut erregt hatte. Nein, bis jetzt war noch nie ein Mensch in der Lage gewesen, das Original Stück für Stück zusammenzusetzen, zu entziffern und das zu lesen, was seit Jahrtausenden als das verschollene Buch Henoch galt.

Andererseits hatte auch nie jemand unter uralten Schriftrollen von alltäglichen Dokumenten danach gesucht, zwischen Rechnungen, Eheverträgen und Geschäftskorrespondenzen. Dort hatte Ezra sie gefunden. War es mehr Glück als Verstand gewesen?, fragte er sich oft. Oder steckte mehr dahinter? Denn zwischen all dem Schrott, den er eigentlich hatte katalogisieren sollen, war er auf dieses unschätzbare Juwel gestoßen. War es vollkommen übersehen worden, verloren in diesem Durcheinander aus eher banalen Schriften? Allein die Geniza der Ben-Esra-Synagoge in Kairo enthielt zum Beispiel mehr als fünfzehntausend Dokumente aus dem elften bis zum dreizehnten Jahrhundert, von denen viele noch gesichtet werden mussten. Mittlerweile vermutete Ezra, dass die Rolle möglicherweise vor Jahrzehnten von einem seiner Vorgänger dort versteckt worden war, der, aus welchen Grund auch immer, nicht mehr in der Lage gewesen war, sein Verbrechen zu Ende zu bringen oder seine Entdeckung herauszuposaunen. In der Schriftrollenforschung waren solche Betrügereien weit verbreitet. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb Ezra sich dort so zu Hause fühlte.

Er zog ein Paar neu erstandener OP-Handschuhe an und entrollte vorsichtig das größte Segment der Rolle, das immer noch intakt war. Doch selbst dieses war weniger als sechs Zentimeter lang und nur zwei bis vier Zentimeter breit. Das blassgelbe Pergament, das jetzt flach auf dem Zeichentisch lag, hatte die Farbe und Beschaffenheit eines Herbstblatts, das vor langer Zeit zwischen den Seiten eines Buches gepresst worden war. Bei den hauchdünnen Fasern handelte es sich vermutlich um Papyrus, wie bei den meisten Schriftrollen, doch Ezra war sich nicht vollkommen sicher. Einige der frühesten Funde hatten aus Tierhäuten bestanden, abgeschabt, gehämmert und gedehnt, bis sie beinahe ebenso glatt und fein gewesen waren wie irgendein heute produziertes Papier. Wenn er Israel nicht wie ein Dieb in der Nacht so überstürzt hätte verlassen müssen, hätte er eine Möglichkeit gefunden, die Laboreinrichtungen der Hebrew University oder des Instituts zu benutzen, um festzustellen, worauf der Text geschrieben worden war.

Aber war das nicht nur ein weiteres Beispiel dafür, wie eine kleinliche Bürokratie das Voranschreiten menschlicher Erkenntnis verhindern konnte? Nichts machte ihn wütender.

Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich zu ärgern. Alles in allem hatte er ziemliches Glück gehabt. Er hatte seine Beute, musste zurzeit keinen anderen dringenden Pflichten nachgehen und war an einem Ort, an dem er ungestört arbeiten konnte. Morgen, so nahm er sich vor, würde er anfangen, den schief hängenden Haussegen wieder geradezurücken. Wenn man ihn nur sich selbst überließe, würde er die Stückchen zusammenfügen und die verschollene Schriftrolle übersetzen, neben der sich der Legende nach das Buch der Offenbarung wie ein Märchen las.