Ein Mann in einem Blumenladen spritzte den Bürgersteig ab, hielt aber inne, um Ezra vorbeizulassen.
Vor einem japanischen Restaurant, das Ezra gelegentlich besucht hatte, stand ein hölzerner Bottich mit frischem Fisch. Als er vorbeiging, schien ein großer Fisch mit glitzernden silbernen Schuppen ihn mit totem Blick zu fixieren.
Er hastete weiter. Mit jeder Minute nahm der Verkehr zu. Die Sonne war endgültig aufgegangen. Der Besitzer eines koreanischen Lebensmittelladens rollte das schwere Metallgitter hoch, das seine Tür und sein Schaufenster bedeckte.
Ezra ging weiter. Je länger er unterwegs war, desto besser fühlte er sich. Die Stimme in seinem Ohr verstummte allmählich. Es war gut, draußen zu sein, gut, die Morgenluft und den Puls des Lebens um sich herum zu spüren. Vielleicht sollte er das regelmäßig machen. Vielleicht sollte er anfangen, lange Spaziergänge zu machen, etwas Sport zu treiben.
Bevor er sich dessen bewusst war, stand er an der Ecke zur neunundachtzigsten Straße, der Straße, in der sein Onkel Maury wohnte. Er bemerkte es erst, als er vor der alten Wiener Bäckerei stehenblieb, in der sein Onkel seine Plunderstückchen am liebsten kaufte. Die Tür zur Bäckerei war geschlossen, aber im Inneren brannte Licht, und er sah eine Frau, die ein Tablett mit orangefarbenen Halloweenkeksen in den Schaukasten schob.
Leise klopfte er gegen die Glasscheibe in der Tür. Wäre es nicht eine nette Überraschung, seinen Onkel mit seinem Lieblingsgebäck zu wecken?
Die Frau kam um den Tresen herum und wischte sich die Hände an der Schürze ab.
»Haben Sie schon geöffnet?«, rief Ezra durch die Tür. »Kann ich schon etwas kaufen?«
Sie beugte sich vor, nur um gleich darauf wieder zurückzuweichen. »Wir haben geschlossen«, sagte sie und wandte sich ab.
Geschlossen? Sie hatte ausgesehen, als wollte sie nach dem Schlüssel greifen, um ihn einzulassen. Um welche Uhrzeit öffneten sie? Er trat selbst einen Schritt zurück, um zu sehen, ob er ein Schild mit den Öffnungszeiten entdecken konnte. Dann sah er sein Spiegelbild im Glas. Ein Mann mit glasigem Blick, Stoppelbart und zerzaustem Haar, den Mantel eng um sich geschlungen, blickte ihm entgegen. Erst jetzt stellte er fest, dass einer seiner Schuhe nicht zugeschnürt war.
Kein Wunder. Er überlegte, ob er noch einmal klopfen und versuchen sollte, die Frau von seiner geistigen Gesundheit zu überzeugen, doch sie war bereits im Hinterzimmer verschwunden, wo sie zweifellos darauf wartete, dass er verschwand.
Er überquerte die Straße und ging an einer Reihe baufälliger Backsteinhäuser vorüber. Sein Onkel wohnte im dritten Stock, nach vorne raus, und Ezra wusste, dass er einen leichten Schlaf hatte und früh aufstand. Vor der Treppe, auf der jemand eine leere Bierflasche abgestellt hatte, blieb er stehen und schaute hoch zum Fenster seines Onkels. Das Licht war auf jeden Fall an.
Im Foyer klingelte Ezra, aber er kannte seinen Onkel und wartete die Antwort nicht ab, sondern trat wieder nach draußen auf die Straße. Er wusste, dass sein Onkel am Fenster stehen und auf den Bürgersteig schauen würde, um herauszufinden, wer ihn belästigte.
Als er sah, wie der Vorhang zurückgezogen wurde, winkte er. Maury, noch im Bademantel, starrte zu ihm hinunter, als wollte er eine unwahrscheinliche Information verarbeiten. Schließlich ließ er den Vorhang einfach fallen, und als Ezra wieder im Foyer war, summte die Tür, und er konnte sie aufstoßen.
Als er um den Treppenabsatz bog, hatte Maury seine Tür weit geöffnet. »Was zum Teufel hast du denn so früh morgens hier zu suchen?« Dann, als sei ihm etwas Schreckliches eingefallen, fügte er hinzu: »Dein Vater? Ist mit ihm alles in Ordnung?«
»Soweit ich weiß, geht es ihm gut. Er ist immer noch mit Kimberly in Palm Beach.«
Ezra ging in die Küche, durch die man das Apartment betrat. Alle Zimmer der Wohnung lagen in einer Reihe hintereinander, wie bei einem Eisenbahnwaggon. Erst kam die Küche, dann das Schlafzimmer und nach vorne raus das Wohnzimmer.
»Willst du einen Kaffee?«, fragte sein Onkel und deutete auf ein Glas mit Folger’s Instantkaffee auf der Arbeitsplatte. »Ich wollte mir gerade einen machen.«
»Ja, das wäre klasse. Ich habe an der Wiener Bäckerei angehalten, um dir ein Plunderstückchen mitzubringen, aber sie haben mich nicht reingelassen.«
Maury lachte leise auf. »Das kann ich ihnen nicht verdenken. Du siehst aus, als wärst du gerade aus der Klapse entwischt.«
In gewisser Weise fühlte er sich auch genau so. Diese gespenstische Stimme, tief, eindringlich und seltsam unheilvoll, hallte erneut in seinem Kopf wider.
Maury nahm einen zweiten Becher aus dem Abtropfgestell, löffelte etwas löslichen Kaffee hinein. »Willst du ihn stark?«, fragte er, und als Ezra nickte, fügte er weitere Löffel hinzu. Er goss das kochende Wasser ein und ging dann voraus ins Wohnzimmer.
Sein Onkel setzte sich in seinen Relaxsessel aus weißem Kunstleder mit Heizkissen und Massagefunktion, und Ezra nahm ihm gegenüber auf dem Sofa Platz. Von den Wänden hingen die Tapeten wie Schriftrollen herunter.
»Ich warte immer noch auf eine Antwort«, sagte sein Onkel. »Das ist keine übliche Zeit für einen Besuch. Was ist los?«
Ezra nahm einen Schluck von seinem Kaffee. »Ich konnte nicht schlafen und habe einfach einen Spaziergang gemacht.«
»Gertrude hat mir erzählt, dass du nachts überhaupt nicht mehr schläfst. Sie sagt, dass du nicht vor der Morgendämmerung zu Bett gehst und erst am Nachmittag aufstehst. Was treibst du nachts, Ezra?«
»Ich arbeite.«
»Kannst du nicht tagsüber arbeiten wie die meisten Menschen?«
»In der Nacht ist es besser. Ruhiger. Weniger Unterbrechungen.« Bis auf diese spezielle Nacht natürlich.
Maury wirkte nicht überzeugt. »Was sagt deine Ärztin dazu? Diese Dr. Neumann?«
»Ich habe nicht mit ihr darüber geredet.«
»Vielleicht solltest du das tun. Sie verschreibt dir doch Medikamente, gegen die Stimmungsschwankungen und so?«
»Ja«, sagte Ezra. Er schaute hinunter auf seine Tasse und staunte über die Art und Weise, wie das Lampenlicht in buntschillernden Kreisen auf der Oberfläche des heißen Kaffees reflektiert werden konnte. Er hatte Dr. Neumann nichts von seiner Schlaflosigkeit erzählt, da er wusste, dass sie ihm nur ein Schlafmittel verschreiben würde, und Schlaf war nicht das, was er wollte. Nicht solange er eine so aufregende Arbeit machte und an so bahnbrechendem Zeug dran war. Die einzigen Mittel, die er von ihr verschrieben haben wollte, waren die Pillen, die ihm halfen, sich zu konzentrieren, ihn wach hielten und weit genug beruhigten, damit er sich ganz der im Moment vor ihm liegenden Arbeit widmen konnte.
Das war der Grund, weshalb er ihr auch nichts von der Stimme erzählen würde, nicht erzählen konnte, die er diese Nacht gehört hatte, genauso wenig, wie er seinem Onkel davon erzählen konnte. Er wusste, wohin das führen könnte: bestenfalls zu endlosen Therapiesitzungen, schlimmstenfalls würde er gegen seinen Willen eingewiesen werden. Die Schriftrolle fügte sich Stück für Stück zusammen, aber es war eine irrsinnige Aufgabe, die einen glatt verrückt machen konnte. In der Tat war genau das vielen seiner Vorgänger passiert, wie Ezra besser als jeder andere wusste. Der Erste, der diesen Fluch zu spüren bekommen hatte, war Shapira gewesen, jener Mann, der Ende des neunzehnten Jahrhunderts als Erster einige alte Manuskripte am Ufer des Toten Meers entdeckt hatte. Zu seinen Lebzeiten hielt man seine Entdeckungen für Fälschungen. Nichts, so folgerten die Forscher damals, hätte so lange in solch unwirtlichem Klima überdauern können. Nachdem Shapira lange Jahre berufliche Verachtung und Zurückweisung hatte erdulden müssen, mietete er sich in einem Hotel in Rotterdam ein und jagte sich eine Kugel in den Kopf. Nach den erstaunlichen Funden von Qumran 1947 war Shapira rehabilitiert. Andere machten dort weiter, wo er aufgehört hatte, oft genug mit ähnlich fatalen Folgen. Schriftrollenforscher waren bekannt dafür, leicht dem Wahnsinn und der Verzweiflung anheimzufallen, für ihren Alkohol-und Drogenmissbrauch und ihre Neigung zu Selbstmord. All das kam ziemlich regelmäßig vor, und einen solchen Fall kannte Ezra sogar persönlich. Eine Australierin, die bedeutendste Autorität in Bezug auf die Religion der Essener, hatte im Schrein des Buches in Jerusalem mit den Schriftrollen vom Toten Meer gearbeitet. In weniger als zwei Jahren war sie zu einer brabbelnden Fanatikerin geworden, die über die bevorstehende Apokalypse phantasierte und vor einem allgegenwärtigen Gespenst davonlief, das sie den Schattenmann nannte. Bei einer Konferenz in Haifa stürzte sie auf das Podium, und nachdem sie etwas über die Söhne des Lichts geschrien hatte, zündete sie sich selbst an. Sie überlebte mit schweren Verbrennungen und wurde nach Hause nach Melbourne geschickt, wo sie, seinen letzten Informationen nach, unter starken Medikamenten und permanenter Betreuung in einem privaten Sanatorium lebte.