Er nahm an, dass in einer von ihnen auch seine Ausgabe der Aeneis steckte. Am Morgen würde er danach suchen.
Aus müßiger Neugier nahm er eines von Beths Büchern über die Kunst der Renaissance heraus und nahm es mit zu seinem Lehnsessel. Er blätterte darin, betrachtete die kuriose Mischung aus biblischen und mythologischen Motiven und nippte an seinem Bier. Doch seine Gedanken kehrten immer wieder zur Aeneis zurück, zu den Zeilen, an die er sich aus seinem Traum dunkel erinnerte und die er bereits wieder zu vergessen begann. Etwas über einen beschatteten See und vergiftete Luft, die von ihm aufstieg. Er fragte sich, ob er sich tatsächlich so genau an einzelne Zeilen erinnern konnte. Hatte das Epos während seiner Studentenjahre einen so tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen? Oder lag er vollkommen daneben? Erneut fragte er sich, wo das Buch wohl gelandet war. Er wollte es sehen, und aus irgendeinem Grund wollte er es jetzt sehen.
Er legte den Kunstband auf den Couchtisch und warf einen Blick auf die Uhr über dem Regal. Es war halb vier morgens. Zumindest würde er keinen Nachbarn über den Weg laufen, wenn er jetzt nach unten ginge.
Er schlich sich aus der Wohnung und nahm die Treppe. Im Treppenhaus wehte ein kalter Wind, und als er das Erdgeschoss erreichte, erkannte er den Grund dafür. Die Tür zum Foyer, die eigentlich immer geschlossen sein sollte, stand weit offen. Er stieß sie zu und wartete auf das Geräusch, mit dem der Schnapper einrastete. Dann drehte er sich um und ging ans andere Ende der Halle, wo sich die Kellertür hinter dem Fahrstuhl verbarg. Trotz der späten Stunde hörte er die Fahrstuhlkabine im Schacht rumpeln. Vielleicht hätte er nicht gerade in Bademantel und Flip-Flops aus der Wohnung gehen sollen. Es wäre ziemlich peinlich, in diesem Aufzug einem Nachbarn in die Arme zu laufen. An der Kellertür hing zwar ein Vorhängeschloss, aber Carter wusste wie alle übrigen Mieter, dass es nicht abgeschlossen war. Er entfernte das Schloss, klappte den Riegel zurück und stieg die enge Treppenflucht hinab.
Hier unten gab es zwei Waschmaschinen und einen Trockner, einen klapprigen Tisch, um die Wäsche zusammenzulegen, und einen Plastikstuhl. Der Boden bestand aus Beton, die Decke aus schmutzigen schalldämmenden Platten. Der Versuch des Hausmeisters, den Raum freundlicher zu gestalten, indem er einen Lampenschirm aus gelbem und rotem Glas über das Deckenlicht gehängt hatte, verstärkte nur noch den Eindruck der Trostlosigkeit. Im nächsten Raum stand an der Rückwand der Heizungskessel, und hier durften die Mieter ein paar Dinge lagern. Es gab ein paar Fahrräder, ein Paar Skier und einige Dutzend Kisten. Carters standen ganz hinten.
Er zog am Band an der nackten Glühbirne, die hier von der Decke hing, und betrachtete den Stapel brauner Pappkartons. Sie sahen alle gleich aus. In welchem steckten seine Bücher aus den Literatur-und Klassikkursen? Er wusste, dass es nicht der oberste war; der enthielt verschiedene Aufsätze, die er verfasst hatte, seine Doktorarbeit, kurze Zusammenfassungen und Monographien. Er nahm sie vom Stapel und hob den Deckel des nächsten Kartons an. Er entdeckte eine Reihe von Texten zu Biologie und Chemie. Er stellte den Karton auf den ersten. Der nächste Karton könnte sich als Treffer erweisen. Ganz obenauf lag Dryden, direkt darunter Chaucer. Er ließ den Karton auf den Boden plumpsen, setzte sich auf die beiden anderen und begann sich durch die eselsohrigen Bände mit Lyrik und Literatur zu wühlen. Ganz unten entdeckte er die Aeneis. Es war ein dickes Taschenbuch, mit einem Gemälde von Aeneas und Dido in Karthago auf dem Cover. Als er es erblickte, erinnerte er sich auf der Stelle, dass es von Claude Lorraine stammte. Mit einer Kunsthistorikerin verheiratet zu sein, hatte ihn ein paar Dinge gelehrt.
Aber wie sollte er die Zeilen finden, nach denen er suchte? Und warum suchte er überhaupt danach? Er hatte das überaus merkwürdige Gefühl, dass es etwas zu bedeuten hatte; dass sein Unterbewusstsein versuchte, ihn auf etwas hinzuweisen. Dass es schon eine ganze Weile versuchte, ihm etwas mitzuteilen.
Aber die Aeneis bestand aus zwölf Büchern, und jedes bestand aus Tausenden von Zeilen. Im Geiste ging er noch einmal die Zeilen aus seinem Traum durch. Es gab keine einfache Möglichkeit, um zielgerichtet im Glossar oder Index die Stelle mit einem schwarzen See oder finsteren Wäldern aufzuspüren. Jedes Wort hatte vermutlich Dutzende von Verweisen. Aber es wurden Vögel erwähnt, an der Stelle, wo es im Gedicht hieß, kein Vogel könnte über den Brodem des Sees fliegen. Carter wusste, dass es im Altgriechischen den Begriff vogellos gab, mit dem auch ein karger Ort selbst bezeichnet wurde. Er erinnerte sich, dass er den Begriff in einem seiner ersten Aufsätze über die Verbindung zwischen Vögeln und Dinosauriern verwendet hatte. Das Wort lautete aornos, und das, fand er, war ein guter Anfang.
Er schlug die hinteren Seiten des Buchs auf, und da war es, ein Verweis auf die erste Erwähnung im sechsten Buch, Zeile 323 der Mandelbaum-Übersetzung, die er benutzt hatte.
Doch dann, ehe er die Seite umblättern konnte, fiel ihm in derselben Begriffserklärung etwas ins Auge. Es war ein anderer Name für denselben kargen Ort, eine Alternative, die ihm vage vertraut vorgekommen war, seit Russo ihm die ersten Berichte über das Fossil aus Rom geschickt hatte. Avernus. Den Anmerkungen zufolge, die er jetzt las, war das der Ort, an dem die bekannte Sibylle von Cumae, die ungestüme und furchterregende Seherin der Antike, den Eingang zur Unterwelt bewachte. Die Pforte zur Hölle, wie es hieß.
Und war nicht auch dort, am Lago d’Averno, das Fossil gefunden worden, in einer Höhle, die seit Millionen von Jahren unterhalb der Wasseroberfläche lag?
Ohne sich zu rühren, saß Carter da, während ein kalter Windzug um seine Füße und Knöchel strich. Hinter dem Heizkessel vernahm er ein verstohlenes Scharren. Er hatte das Gefühl, als würde etwas Massives, ein roh behauener Block der Pyramiden zum Beispiel, endlich an seinen Platz gleiten. Etwas nahm Form an, ohne dass er indes erkennen konnte, was es war. Das Scharren ertönte erneut, und er bemerkte eine gespannte Mausefalle in der Ecke. Zeit, wieder nach oben zu gehen, dachte er. Zeit, über all das in einer wärmeren und behaglicheren Umgebung nachzudenken.
Er zog an dem Band der Lampe, ging durch die Waschküche zurück und erklomm, die Aeneis in der Hand, die Treppe zum Erdgeschoss. Im Treppenhaus war es immer noch kalt, und für den Rest des Weges nach oben nahm er den alten knarrenden Aufzug.
Er hatte die Wohnungstür nicht abgeschlossen und trat leise ein, leerte das Bier, das noch auf dem Couchtisch stand, und warf die leere Flasche gedankenverloren in den Abfalleimer in der Küche. Besorgt, dass er Beth damit gestört haben könnte, warf er einen Blick über den Flur auf die Schlafzimmertür. Sie war zum Glück geschlossen.
Aber das war seltsam.
Sie schlossen diese Tür nur selten, und er wusste, dass er sie heute Nacht nicht zugemacht hatte. War es Beth gewesen? Nachdem sein Albtraum sie aus dem Schlaf gerissen hatte, hatte er geglaubt, sie sei sofort wieder eingeschlafen.
Avernus. Morgen würde er in der Universitätsbibliothek ein paar weitere Quellen nachschlagen müssen, um herauszufinden, ob es noch weitere Bezüge gab, die weniger erschreckend waren als die, die er bereits kannte.
Im Wohnzimmer schaltete er das Licht an, blickte über den leeren weiten Washington Square Park unter sich und ging schließlich zur Schlafzimmertür. Er wollte sie öffnen, stellte aber zu seiner großen Überraschung fest, dass sie sich nicht bewegen ließ. Er wusste ganz sicher, dass sie nicht abgeschlossen sein konnte, denn das Schloss war schon vor ihrem Einzug kaputt gewesen. Er probierte es erneut, und dieses Mal gab die Tür nach, wenn auch nur ein kleines Stück. Dann, als hätte sie einen eigenen Willen, schloss sie sich erneut.