Verwirrt stand Carter da. Gab es einen heftigen Windzug, der die Tür von der anderen Seite wieder zudrückte? Tatsächlich konnte er einen kühlen Luftzug unter der Tür spüren, der seine nackten Knöchel streifte. Er stützte die Schulter gegen die Tür und schob sie Stück für Stück etwa einen halben Meter weit auf. Er spähte durch den Spalt und stellte fest, dass das Fenster weit offen stand. Die Jalousien klapperten und hingen schief. Und plötzlich schien etwas sein Herz zu umklammern. Mit seinem ganzen Gewicht warf er sich gegen die Tür und erzwang sich Zutritt zu dem Zimmer.
»Beth!«, schrie er und stolperte über etwas Sperriges am Boden. »Bist du in Ordnung?«, rief er und schaffte es gerade noch, nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Beinahe nackt lag sie auf dem Bett, die Laken zurückgeworfen. Die obere Hälfte des Leoparden-Pyjamas fehlte völlig, und die Hose hatte sich um ihre Knöchel verheddert.
»Beth! Was ist hier los!«, drängte er und rannte zum Bett. »Beth!«
Doch so unglaublich es klang, sie schlief, tief und fest. Als er die Hand auf ihre Schulter legte und sie schüttelte, war es, als bewegte er eine Lumpenpuppe. Ihr Kopf rollte zurück, und ihre Haut war so kalt, dass sie überall Gänsehaut hatte. Ein feuchter Wind wehte durch das offene Fenster herein. Er sprang auf, schlug die Jalousien beiseite und zog das Fenster herunter. Draußen auf der Feuerleiter war der Geranientopf umgekippt.
Als er Beth erneut packte, öffnete sie langsam die Augen. »Beth, wach auf! Sprich mit mir!«
Aber es schien ihr schwerzufallen, ihn deutlich zu erkennen. Ihr verschwommener Blick wanderte im schwach erleuchteten Zimmer umher, als er eine Decke, die halb auf dem Boden hing, zurück aufs Bett zerrte und sie damit zudeckte.
»Beth, ich bin’s. Beth!«
Allmählich wurde ihr Blick klarer, aber damit schien auch Panik in ihr aufzusteigen. Ihre Finger umklammerten Carters Arme, und sie stöhnte voller Angst.
»Es ist alles in Ordnung, du bist okay«, sagte er immer wieder und versuchte, sie zu beruhigen. »Was ist passiert?« Dabei wollte sein Verstand es gar nicht so genau wissen … noch nicht.
Ihr Haar war zerzaust, als ob kräftige Finger es zerwühlt hätten.
»Ich dachte, ich sei derjenige mit dem Albtraum heute Nacht«, sagte Carter tröstend. Er lachte halbherzig. »Jetzt hattest du auch einen, was?« Er hoffte inständig, dass es nur das gewesen war.
Sie sagte immer noch nichts, sondern drängte sich nur an ihn.
Zärtlich rieb er ihren Rücken und blickte sich auf dem Boden um. Der Schlafzimmerteppich, der normalerweise vom Bettgestell an Ort und Stelle gehalten wurde, lag in einem Haufen vor der Tür. Das musste die Tür blockiert haben, und darüber musste er gestolpert sein.
Aber das erklärte noch lange nicht, wie der Teppich dort hingekommen war.
»Beth«, sagte er leise, »erinnerst du dich, ob du die Schlafzimmertür zugemacht hast?«
Er spürte, wie sie verneinend den Kopf schüttelte.
»Oder den Teppich verschoben hast?«
Erneutes Kopfschütteln. Nein. Er brauchte sie gar nicht erst wegen des offenen Fensters zu fragen. Er wusste, wie die Antwort lautete.
Aber was war dann passiert? Hatte sie schlafgewandelt, so wie Joe? In all den Jahren, seit sie zusammen waren, war ihm nie aufgefallen, dass Beth so etwas täte. Aber was war die Alternative? Dass etwas oder jemand anderes dafür verantwortlich war?
Soweit er erkennen konnte, war sie körperlich in keiner Weise verletzt. Zumindest das nicht. In der Luft lag ein seltsam frischer Duft, der ihn an regennasse Blätter denken ließ. Aber irgendetwas Unfassbares war hier geschehen. Beth umklammerte ihn noch fester als je zuvor. Sie hatte die Arme um ihn geschlungen und zog ihn eng an sich. Unter der Decke hatte sie die Pyjamahose weggetreten.
»Jetzt ist alles gut«, sagte er und dachte, dass sie vielleicht nur die Bestärkung brauchte, doch ihre Umarmung zeigte, dass sie noch mehr wollte.
»Fick mich«, sagte sie.
Es war das Letzte, was er erwartet hatte von ihr zu hören, und er glaubte, sie nicht richtig verstanden zu haben.
»Fick mich!«
Auch ihre Stimme, distanziert und fordernd, klang nicht nach der Beth, die er kannte.
Abrupt riss sie sich die Decke vom nackten Leib und zog ihn hinunter, bis er auf ihr lag. Ihre Hände glitten unter seinen Bademantel.
»Beth, willst du wirklich …«
»Ja, ich will wirklich«, sagte sie mit spöttischem und zugleich drängendem Ton, »es ist genau das, was ich will.« Sie zerrte seine Boxershorts nach unten. »Jetzt.«
»Aber ich …«
Sie brachte ihn zum Schweigen, indem sie ihre Lippen gegen seinen Mund presste und ihre Zunge sich drängend Einlass verschaffte. Es fühlte sich falsch an, überhaupt nicht gut. Carter hatte den Eindruck, mit jemandem im Bett zu liegen, den er nicht kannte.
Ihre Hand rutschte tiefer, packte ihn.
Unwillkürlich reagierte er darauf.
Beth presste ihre Hüften gegen ihn und stöhnte. Das Geräusch ihres quälenden Verlangens hallte in seinen Ohren wider. Sie spreizte die Beine und schlang sie um seinen Rücken.
Als er in sie eindrang, war sie so offen, so nass, als seien sie bereits stundenlang zugange, nicht erst seit wenigen Sekunden. Sie zog ihn noch enger an sich und ließ ein ekstatisches Stöhnen hören, ein Stöhnen, das ihn ebenfalls entflammte. Noch nie zuvor hatte er sie solche Geräusche machen hören, er hatte nicht gewusst, dass ihr Körper vor Leidenschaft so erhitzt und im selben Moment so kalt in der Berührung sein konnte. Sie warf den Kopf ins Kissen zurück, das Kinn angehoben, und er stieß zu, immer und immer wieder.
»Mehr«, bettelte sie, »mehr … mehr …«
Gleichgültig, wie heftig er zustieß oder wie tief er in sie eindrang, sie drängte ihn, weiterzumachen, und packte ihn noch fester. Als er sich nicht länger zurückhalten konnte, bohrte sie die Fingernägel in seinen Rücken, wie Klauen, und ein unterdrückter Schrei blieb ihr in der Kehle stecken.
Er schloss die Augen, verloren im Augenblick, und dachte ausnahmsweise einmal an nichts.
Doch als er die Augen wieder aufschlug, hatte sie den Kopf dem Fenster zugewandt. Ihre Lippen bildeten ein dünnes, eingefrorenes Lächeln, und ihre Augen waren so weit nach oben verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war.
Ein Schauder lief Carter über den Rücken. Dort, wo ihre Nägel sich in seine Schultern gebohrt hatten, begann Blut hervorzusickern.
28. Kapitel
Ezra war auf einen ausgesprochen kniffligen, aber fesselnden Teil der Übersetzung gestoßen. Der vorige Abschnitt der Schriftrolle hatte die Pflichten der Engel beschrieben, dieser Wächter, und was sie einst für die Menschheit getan hatten. Da sie selbst niemals schlafen mussten, konnten sie unablässig über die Welt wachen und hatten Geschenke gebracht wie das Wissen über Aussaat und Ernte oder den Sinn für die Künste – und das Künstliche. Sie hatten die Menschen gelehrt, in einer gemeinsamen Sprache zu sprechen, damit sie einander verstanden und gemeinsame Ziele erreichen konnten.
Seit er mit diesem Abschnitt der Schriftrolle begonnen hatte, hatte er nur eine Unterbrechung hinnehmen müssen. Er hatte sich, wie gefordert, auf der Spendenparty für den Bürgermeister blicken lassen. Sein Vater hatte darauf bestanden, und pflichtschuldig war Ezra gerade lange genug geblieben, um dem Bürgermeister persönlich dafür zu danken, dass er zu seinen Gunsten eingegriffen hatte, als er wegen der Sache im UN-Park im Gefängnis gesessen hatte. Anschließend war er wieder auf sein Zimmer gehuscht.