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An diesem Abend war er so erpicht darauf gewesen, weiterzumachen, dass er in seiner Eile beinahe einen Gast buchstäblich umgerannt hätte. Einen blonden Mann, der aus dem Gang kam, der ausschließlich zu den Privaträumen der Familie führte. Ezra, der immer noch eine Champagnerflöte in der Hand hielt, verschüttete etwas davon auf dem Anzug des Mannes.

»Oh, tut mir leid«, sagte Ezra und bürstete den Champagner fort.

Der Mann sagte nichts, und als Ezra ihn ansah, stellte er verdutzt fest, dass er eine Sonnenbrille mit bernsteinfarbenen Gläsern trug. Sein Gesicht sah aus, als sei es aus makellosem Alabaster gemeißelt.

»Haben Sie sich verlaufen?«

»Wie kommen Sie darauf?«

Auch sein Akzent war seltsam. »Weil die Party dort drüben stattfindet«, sagte Ezra und deutete mit dem Kopf in die entsprechende Richtung.

»Ja«, sagte der Mann. Er lächelte, als sei ihm nachträglich etwas eingefallen, dann ging er davon. Die Luft, stellte Ezra fest, roch nach einem Kranz aus immergrünen Zweigen.

Er hatte indes nicht weiter darüber nachgedacht, sondern sich direkt wieder dem Abschnitt gewidmet, mit dem er sich seitdem abmühte. Es handelte sich um eine wahrhaftige Auflistung der Engel selbst, eine Liste mit den alten Namen, und er kam auffallend langsam voran. Den ganzen Morgen und den größten Teil des Nachmittags hatte er darauf verwendet, die blassen Buchstaben zu analysieren und die verblichenen Worte zu entziffern. In keiner bekannten Sprache gab es wörtliche Entsprechungen, so dass er versuchte, die Begriffe grob zu übersetzen. Aber der Klang war schwer zu kopieren, die Konsonanten waren hart wie Walnüsse, und die Vokale verwischten miteinander auf eine Art, die für moderne Zungen schwer auszusprechen waren. Die Silben erforderten, oder besser schufen, eine Art fremdartige Melodie, und alles, was er tun konnte, war, sich den geheimnisvollen Namen grob anzunähern. Araquiel … Semjaza … Gadreel … Penemue … Tamuel … Baraqel … Ereus …

Vielleicht lag es daran, dass er von seiner Arbeit so in Anspruch genommen war, dass er das Kratzen auf dem Glas hinter sich zuerst gar nicht hörte. Erst allmählich drang es in sein Bewusstsein ein, und jetzt hörte er auch, wie der Türknauf an der Terrassentür gedreht wurde. Er wirbelte auf seinem Stuhl herum und starrte zur Veranda. Die Türen waren geschlossen, die bodenlangen Vorhänge zugezogen, doch irgendetwas rührte sich dort draußen auf der Veranda, das wusste er.

Er warf ein leichtes Stück Stoff über seine Arbeit auf dem Zeichentisch und schlich verstohlen zur Tür.

Das kratzende Geräusch erstarb, doch plötzlich hämmerte jemand gegen das Glas.

Mit einem Finger teilte er die Vorhänge, und ein Auge, ein wildes, grünes Auge presste sich von der anderen Seite gegen das Glas und starrte ihn an.

»Lass mich herein, Ezra«, hörte er. »Ich muss den Innenarchitekten herumführen.«

Wie bitte? Kimberly stand dort draußen in der Kälte, bekleidet, wie er jetzt sah, nur mit einem rosa Satinbademantel. Und sie war allein.

»Mach auf! Wir frieren hier draußen!«

Auf dieser Seite erstreckte sich die Veranda über das gesamte Apartment, vom Hauptschlafzimmer bis zu seinen eigenen Räumen, aber er hätte nie gedacht, dass Kimberly jemals bis hierher kommen würde. Er zog den Vorhang zurück und fummelte am Türgriff der Terrassentür herum. Sie wurden so selten benutzt, dass der Griff klemmte und sich nur schwer öffnen ließ. Als die Tür endlich aufging, schlüpfte Kimberly rasch hindurch. Ihr Haar war lose und zerzaust, die Füße nackt.

»Warum musst du diese Zimmer immer verschlossen halten wie ein Gefängnis?«, beschwerte sie sich, und Ezra wusste nicht, was er sagen sollte. Genauso wenig wusste er, was er davon halten sollte. Sie sah sich im Zimmer um, sah die Klarsichthüllen an den Wänden, in denen die zusammengefügte Schriftrolle steckte, auf den Arbeitsplatz, an dem noch die Neonlampe brannte, auf den Berg aus Bürsten und Plastikhandschuhen und Schablonenmessern auf der alten Spielzeugkiste. Angewidert rümpfte sie die Nase. »Du hast ja noch nicht einmal angefangen zu packen.«

»Warum sollte ich?«, fragte Ezra.

»Damit wir anfangen können, das Kinderzimmer einzurichten«, erwiderte sie, als sei er der dümmste Mensch auf der Welt.

Sie phantasierte eindeutig. Seit der Party für den Bürgermeister war sie krank. Laut Gertrude hatte sie sich heimlich von der Party davongemacht und war in ihrem Zimmer zusammengebrochen. Seitdem war sie weder zu den Mahlzeiten noch aus einem anderen Grund herausgekommen. Gertrude hatte ihr Hühnerbrühe und Medikamente gebracht, aber offensichtlich hatte sich ihr Zustand noch verschlechtert. Sein Vater war, wie nicht anders zu erwarten, nicht in der Stadt, sondern geschäftlich in Dallas.

»Erinnerst du dich nicht«, sagte er, »dass ich hier wohnen bleiben muss, wo ich unter Beobachtung stehe?«

»Wovon redest du da?«

»Von der Anweisung des Gerichts«, erwiderte er, obwohl er merkte, dass nichts von dem einen Sinn für sie ergab. Vor ein paar Sekunden hatte sie noch geglaubt, der Innenarchitekt sei bei ihr.

»Alles, was ich weiß«, sagte sie und machte eine Armbewegung, die den ganzen Raum mit einschloss, »ist, dass das alles verschwinden muss. Wir müssen hier streichen, neuen Teppichboden verlegen lassen und Platz schaffen für die Babywiege!«

Ihr Bademantel war ihr von der Schulter gerutscht, als sie so wild gestikulierte, und entsetzt stellte Ezras fest, dass ihr Schulterblatt mit blauen Flecken übersät war. Es sah aus, als hätte jemand sie viel zu heftig mit den Händen gepackt, und bei der Vorstellung, dass dieser Jemand sein Vater gewesen sein könnte, wurde ihm eindeutig mulmig. Es musste sein Vater gewesen sein, wer denn sonst?

»Was führst du hier überhaupt im Schilde?«, fragte Kimberly und setzte sich in Richtung Zeichentisch in Bewegung. »Das hier nennst du also deine Forschung?«

Hastig baute Ezra sich zwischen ihr und dem Tisch auf. In ihrem gegenwärtigen Zustand ließ sich nicht vorhersagen, was sie tun würde.

»Ja, und es darf nichts durcheinandergebracht werden«, sagte er.

»Wer sagt das?«, erwiderte sie, langte um ihn herum und riss den Stoff vom Abschnitt der Schriftrolle, den er gerade übersetzte.

Ezra packte ihr Handgelenk. »Ich habe gesagt, dass du aufhören sollst.«

»Du hast mir nicht zu sagen, was ich machen soll!«

»Kimberly, du bist krank«, sagte er und versuchte sie zu beruhigen. »Ich glaube, es ist besser, wenn wir in dein Zimmer zurückgehen und den Arzt rufen.«

»In Ordnung«, sagte sie, plötzlich gefügig, »du hast recht«, aber kaum hatte er ihr Handgelenk losgelassen, machte sie einen Satz auf den Tisch zu und schnappte sich ein Stück der kostbaren Schriftrolle.

»Kimberly, nein!«, schrie er.

Ehe er sie aufhalten konnte, war sie davongetänzelt. Mit einem irren Grinsen im Gesicht wedelte sie mit dem Streifen herum. »Komm doch und hol es dir!«

Sie rannte auf die Terrassentür zu, und Ezra hatte keine andere Wahl, als ihr nachzulaufen und sie erneut zu packen. Sie wirbelte herum, bis der Bademantel ganz aufging. Darunter war sie nackt, und als sie mit den Händen auf ihn losging und ihn wie wahnsinnig kratze und um sich schlug, stellte Ezra fest, dass sie am ganzen Körper noch weitere blaue Flecken hatte. Was um alles in der Welt war ihr zugestoßen?

»Lass mich los!«, kreischte sie. »Lass los!«

Aber Ezra versuchte lediglich, das Stückchen Schriftrolle wieder an sich zu bringen. Sie hielt es außer Reichweite, dann krümmte sie sich und wirbelte herum. Er sah, wie sie vergeblich versuchte, es zu zerreißen.

»Hör auf, Kimberly!«

Aber sie hörte nicht auf. Sie nahm den Fetzen zwischen ihre Zähne und zerrte daran – und es war, als hätte sie in einen unter Strom stehenden Draht gebissen. Eine Woge aus blauen Funken schoss in die Luft und summte wie ein Schwarm wütender Bienen. Sie stürzte zu Boden, ein winziges Stück der Schriftrolle klebte noch an ihrer Lippe. Ihre Glieder zuckten, und weißer Schaum trat ihr aus dem Mund.